Schüler treffen Schäuble „Sie können Druck machen!“
Daniel Heinz
Streiten Sie kräftig und engagieren Sie sich! Das war die Botschaft von Bundestagspräsident Schäuble an Diane, Elisabeth, Felipa, Jakob, Magnus und Yanic, die ihn im Bundestag besuchten. Die sechs organisieren in ihren Schulen die Juniorwahl.
Nur wenige Minuten, nachdem die scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wohl zum letzten Mal eine Sitzung des Deutschen Bundestages verließ, erscheint Bundestagspräsident Schäuble in einem Eckzimmer des Reichstagsgebäudes nur wenige Meter vom Plenarsaal entfernt.
„Hallo und guten Tag zusammen“ ruft er in den Raum und begrüßt Diane, Elisabeth, Felipa, Jakob, Magnus und Yanic. Die Berliner Schülerinnen und Schüler haben heute die Gelegenheit, hautnah einen der bekanntesten Politiker Deutschlands zu erleben – und dies just an dem Tag der voraussichtlich letzten Bundestagssitzung vor der Bundestagswahl.
„Diskutieren Sie viel?“
Auch für Schäuble, der gerade im Plenarsaal leidenschaftliche Wahlkampfreden der Kanzlerkandidaten von Union, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gehört hatte, ist dies eine besondere Gelegenheit. „Diskutieren sie viel untereinander in der Schule über Politik?“, möchte er gleich wissen. Kopfnicken in der Runde. „Ja, sehr viel. Wir haben eine gute Diskussionskultur“, erwidert etwa Jakob, Schüler des Dathe-Gymnasiums in Berlin-Friedrichshain. Die Juniorwahl befeuere Diskussionen auf dem Schulhof und auch der Wahl-O-Mat werde genutzt. Dies ist ein Onlinetool der Bundeszentrale für politische Bildung, das hilft, die Parteien zu vergleichen.
Der Bundestagspräsident, der in seiner Schulzeit ebenfalls Klassen- und Schulsprecher war, erinnert sich: „Wir haben kräftig gestritten – das macht es spannend!“ Und fragt noch gleich. „Üben sie auch Reden?“ Diane vom Humboldt-Gymnasium in Berlin-Tegel berichtet von den Wettbewerben „Jugend debattiert“ und „Debating Matters“, die in vielen Schulen durchgeführt werden, um kommunikative Fähigkeiten, Auftreten und politische Urteilsbildung zu stärken.
Was ist die Juniorwahl?
Die Jugendlichen, die Schäuble heute für eine knappe Stunde trifft, engagieren sich alle bei der Juniorwahl. Denn nicht nur die Ü18-Jährigen machen zur Bundestagswahl am 26. September ihre Kreuzchen in der Wahlkabine. Im Rahmen der Juniorwahlen stimmen auch 1,5 Millionen Schülerinnen und Schüler aus 4.503 Schulen in einer simulierten Bundestagswahl ab.
Bundestagspräsident Schäuble, Schirmherr des Schülerprojektes, will natürlich wissen, wie die Vorbereitungen vor Ort laufen. Diane und Elisabeth berichten vom Humboldt-Gymnasium in Berlin-Tegel, dort beteiligen sich 615 Jugendliche.
Mehr zur Juniorwahl
Die Ergebnisse liegen am 27. September vor, genau wie die der echten Bundestagwahl. Dafür sorgt der überparteiliche Verein Kumulus e. V., der seit 1999 die Juniorwahlen organisiert. Diese finden in ganz Deutschland, aber auch an deutschen Auslandsschulen, ab der Klassenstufe 7 statt – und zwar immer parallel zu Bundestags-, Landtags- und Europawahlen.
Druck geht auf vielen Wegen
Magnus von der George-Orwell-Schule in Berlin-Friedrichsfelde und Elisabeth wollen von Schäuble wissen, wie sich Jugendliche noch stärker in die Politik einmischen können. „Junge Menschen können jede Menge Druck machen“, sagt Schäuble. Die Fridays for Future-Bewegung sei da nur ein Beispiel, Druck ginge auch über soziale Netzwerke, die Parteien und ihre Jugendorganisationen.
„So blöd ist keine Partei“, sagt Schäuble, „dass sie nicht darauf hören, wenn junge Menschen ihre Meinungen sagen und auf etwas drängen.“
Junge Wähler, junger Bundestag und Frauenquote
„Was können wir tun, damit der Bundestag tatsächlich repräsentativ oder zumindest repräsentativer wird?“, fragt Jakob. Das Durchschnittsalter der Abgeordneten sei 49 Jahre, nur knapp 31 Prozent seien weiblich, engagierte junge Leute unter 18 könnten noch nicht wählen. „Vielleicht durch Quoten?“, fragt der Berliner Schüler.
„Da müssen wir über das Prinzip der Repräsentation sprechen“, antwortet Schäuble. Wenn gemeint sei, dass jede Gruppe in der Bevölkerung entsprechend ihrem Anteil repräsentiert sein solle, halte er das für falsch. „Ich bin Schwarzwälder, evangelisch, gehöre zur Gruppe der Alten, zu den Schwerbehinderten, bin männlichen Geschlechts … wer soll mich repräsentieren?“ fragt der 78-Jährige zugespitzt.
Das Prinzip der repräsentativen Demokratie sei ein anderes: „Jeder Abgeordnete ist Vertreter des ganzen deutsche Volkes“, sagt Schäuble, das heiße, er sei für alle da, auch für Frauen, für junge Menschen, für Behinderte, Nicht-Behinderte, Reiche, Arme. Als Abgeordneter müsse man versuchen, politische Entscheidungen zu treffen, „die für alle etwas taugen“. Die Menschen bestimmten bei Wahlen, welche Personen für die nächsten vier Jahre ein solches Mandat bekommen sollen.
„Klar, Widerspruch!“
Kopfschütteln bei Jakob. „Klar, Widerspruch!“ sagt Schäuble lachend. „Aber man kann doch sagen, es hat nicht funktioniert“, hält Jakob dagegen und verweist etwa auf Benachteiligungen von Frauen beim Einkommen.
„Deswegen muss man Druck machen“, sagt Schäuble. Natürlich brauche es mehr Frauen in der Politik. Man könne beobachten, dass der Anteil der Frauen in den meisten Parteien steige. „Und die Bundesregierung besteht ja schon zur Hälfte aus Frauen.“ Es brauche jedoch ein bis zwei Generationen, bis eingeschliffene Verfahrensweisen und Traditionen sich veränderten. „Wenn man zuviel Durck macht, wird unter Umständen der Widerstand zu groß“, sagt der erfahrene Berufspolitiker, der seit 49 Jahren im Parlament sitzt und schon zahlreiche Ministerämter innehatte.
Quoten bei Wahlen seien allerdings nicht zulässig, erläutert der promovierte Jurist Schäuble, dies habe das Bundesverfassungsgericht klargestellt. „Wir haben das Prinzip der allgemeinen, gleichen, freien Wahlen“, sagt er. Zur Verdeutlichung fügt er die Sichtweise eines Wahlberechtigten hinzu: „Ich lasse mir nicht vorschreiben, wen ich wählen soll. Vielleicht wähle ich nur Frauen.“
Wahlalter senken?
Eine Senkung des Wahlalters hält Schäuble für falsch. „Das kann man anders sehen“, sagt der 78-jährige mehrfache Vater und Großvater gleich schnell dazu. Seiner Meinung nach muss Verantwortung „schrittweise übernommen werden“. Junge Menschen seien in einer Übergangphase, 17-Jährige könnten den Führerschein machen, aber dürften nur begleitet fahren, sie hafteten noch nicht vollständig und würden strafrechtlich anders behandelt als Erwachsene. Daher sei er der Meinung, die wichtigste Entscheidung eines jeden Staatsbürgers – die Wahl – könne nicht bei unter 18-Jährigen liegen.
Demokratie – mit jedem?
Müsse jede Meinung in einer Demokratie gehört werden? Diese Frage stellte sich Diane, als sie am Berliner Humboldt-Gymnasium gemeinsam mit ihren Klassenkameradinnen und -kameraden eine Wahlkampfveranstaltung plante und die Gästeliste aufstellte. Sie fragt den Bundestagspräsidenten mit Blick auf die AfD, wie er dazu stehe, dass man gewählte Parteien aus dem demokratischen Prozess bewusst raushalte.
Auch hier gehe es wieder um Repräsentation, meint Schäuble. Gewählte Mandatsträger auszuschließen halte er nicht für gut. „Sie sind ja gewählt und vertreten einen Teil der Bevölkerung“, erläutert der Bundestagspräsident. Jeder Abgeordnete habe dieselben Rechte und Pflichten. „Sie einfach auszuschließen, halte ich nicht für gut.“
Warum hat die AfD keinen Bundestagsvizepräsidenten?
Die nächste Frage in der Runde bezieht sich auf das Bundestagspräsidium. Dies besteht aus dem Präsidenten und seinen Stellvertretern. Sie alle repräsentieren den Bundestag nach außen und leiten die Sitzungen. Normalerweise stellt jede Fraktion einen Stellvertreter oder eine Stellvertreterin, so sieht es die Geschäftsordnung des Parlaments vor. Doch in den vergangenen knapp vier Jahren ist die AfD-Fraktion mit allen Kandidaten bei geheimen Wahlen gescheitert.
Yanic vom Gabriele-von-Bülow-Gymnasium in Tegel fragt nach, wie Schäuble dazu steht. Jede Fraktion dürfe einen Vorschlag zur Wahl machen, erklärt dieser. Die Abgeordneten müssten darauf vertrauen können, dass eine Person „die Sitzungen objektiv leitet“. Wenn aber der jeweilige Kandidat nicht das Vertrauen der Mehrheit des Bundestages habe, dann könne niemand die Abgeordneten zwingen, einen Wahlvorschlag der AfD anzunehmen. „Auch das gehört zur Freiheit des Mandats“, so Schäuble.
Er ergänzt, die AfD müsse wie jede Fraktion in bestimmten anderen Gremien vertreten sein, als Beispiel nannte er den Ältestenrat, dort entscheide die Partei etwa über die Abläufe im Parlament mit.
Sind Demokratien zu langsam?
Politische Entscheidungen können manchmal ganz schön lange dauern, findet Felipa mit Blick auf die Bewältigung der Klimakrise. Die Schülerin, die ebenfalls das Gabriele-von-Bülow-Gymnasiums in Berlin-Tegel besucht, will wissen, ob die Demokratie nicht manchmal zu langsam sei, um auf Krisen zu reagieren. Schäuble stimmt zu, dass die Demokratie „nicht die effizienteste Form ist, Entscheidungen zu treffen“. Das sei die Diktatur, dort entscheide einer und das gelte dann. Die Bevölkerung werde „eingelullt“, unter Druck gesetzt oder gar terrorisiert.
Natürlich werde etwa in China ein Flughafen schneller gebaut als hierzulande. „Aber wollen sie den Preis dafür bezahlen?“, fragt er in die Runde. Demokratie, Freiheit, der Schutz der Würde eines jedes Menschen, der Schutz von Minderheiten, das gehöre für ihn zusammen.
Schäuble weiter: „Ja, im Klimaschutz waren wir zu langsam“. In Krisen zeige sich jedoch, es könne auch schneller gehen, fügt er mit Blick auf Corona hinzu. Krisen bedeuteten neue Chancen, ohne Krisen bewege sich wenig. „Damit wir bereit sind, etwas zu ändern, brauchen wir Druck“, sagte Schäuble, „junge Menschen könnten da eine Menge tun.“ Politische Entscheidungen seien jedoch auch „irrsinnig kompliziert.“
Als Erste entscheiden die Schüler
Meist in der Woche vor der Bundestagswahl führen die Schülerinnen und Schüler die Juniowahl durch, so auch das Berliner Humboldt-Gymnasium. Elisabeth ist Klassensprecherin und Wahlhelferin bei der Simulation. Für sie steht fest, dass sie an der Schule weiter über Politik diskutieren werden. „Wir möchten mit dem Wahlergebnis weiter machen und dieses an unserer Schule aufarbeiten“, sagt sie – das von der kleinen, aber auch das von der großen Wahl.
(Text: Redaktion mitmischen/Autor s. u.)
Daniel Heinz
... (25) arbeitet in der queeren und rassismuskritischen Bildungsarbeit, unter anderem für die Bildungsstätte Anne Frank. Ansonsten ist Daniel dafür bekannt, das beste Pfannkuchen-Rezept in Berlin zu haben.