Ukrainerin Mariia „Meine Träume sind zerplatzt“
Daniel Heinz
Die Ukrainerin Mariia (21) hat ihre Heimat durch den russischen Angriffskrieg verloren. Jetzt ist sie in Berlin. Die Pläne für ihre Zukunft seien zerplatzt, erzählt sie im Interview und berichtet über den Tag des Kriegsbeginns, ihre Flucht und ihre Hoffnungen.
Unser Autor Daniel lernte Mariia während eines Auslandssemesters in der Ukraine kennen. Nach Daniels Rückkehr kam auch Mariia für ein Semester nach Deutschland. Zum Zeitpunkt des Angriffs auf die Ukraine lebte sie wieder dort und musste das Land verlassen. Nun traf sie Daniel erneut, und zwar zum Gespräch für mitmischen.de in Berlin.
Liebe Mariia, wie hast du den 24. Februar erlebt?
Ich komme aus Kyjiw und bin in unserer Hauptstadt geboren und groß geworden. Anfang des Jahres ist meine Familie in die Vorstadt Butscha gezogen. Unter der Woche war ich zum Arbeiten und für Erledigungen in Kyjiw. Ich arbeitete im Marketing für eine Kommunikationsagentur, die zum Beispiel Social Media für Unternehmen verwaltet. An den Wochenenden verbrachte ich meine Zeit mit meiner Familie in unserem Haus in Butscha. In beiden Städten hörte man am Morgen des 24. Februars Explosionen.
Meine Mutter, die an diesem Tag zu Hause in Butscha war, erzählte, dass sie sehen und hören konnte, wie Raketen über unser Haus flogen. Sie habe meinen Stiefvater noch nie so angsterfüllt gesehen wie an diesem Tag, sagte sie mir. Sehr schnell wurde Butscha vom russischen Militär besetzt, für meine Familie begann die reinste Hölle. Die Besatzer stürmten den Flughafen in einem Dorf nahe Hostomel und verwüsteten alles.
Du selbst warst am 24. Februar schon nicht mehr in der Ukraine?
Nein, ich machte mich bereits am 20. Februar bereit, die Ukraine zu verlassen. Meine Mutter war angesichts der Situation sehr besorgt und drängte mich und meinen Bruder zur Ausreise nach Polen, zu einer Freundin von ihr. Erstmal sollten wir dort nur für zwei Wochen bleiben, nur für den Fall der Fälle. Aber der ist dann tatsächlich eingetreten. Am Anfang war ich noch genervt, dass ich nach Polen fahren sollte, weil ich nicht geglaubt habe, dass wirklich etwas passieren würde.
Mein Bruder und ich verließen am frühen Morgen des 21. Februars die Ukraine, am Abend waren wir bereits in Krakau. Da die russische Invasion noch nicht begonnen hatte, sind wir sicher mit dem Zug von Kyjiw nach Przemyśl und von dort mit dem Zug nach Krakau gelangt. Wir hatten keinerlei Probleme, auch nicht an der Grenze. Wochen später bin ich dann weiter nach Deutschland gefahren.
Wie geht es deinen Eltern und den anderen Familienmitgliedern?
Mittlerweile hat auch meine Mutter die Flucht geschafft. Sie und mein Bruder sind in Krakau. Beide möchten nahe an der ukrainischen Grenze bleiben, um zurück in unsere Heimat zu gehen, sobald es wieder sicher ist. Mein Vater und mein Stiefvater sind noch in Kyjiw. Mein Stiefvater dient im territorialen Widerstand und verteidigt unsere Heimat. Mein Vater versucht, seine Arbeit fortzusetzen.
(Anmerkung der Redaktion: Nicht nur das ukrainische Militär leistet Widerstand gegen die russischen Soldaten, auch viele Bürger und Bürgerinnen kämpfen im Widerstand.)
Meine Großmutter hatte vor drei Jahren einen Schlaganfall und kann fast nur liegen. Es ist sehr schwierig, sie in Sicherheit zu bringen. Wir können sie ohne die nötige medizinische Ausstattung nicht bewegen. Mein Großvater und mein Onkel sind an ihrer Seite in der Ukraine geblieben. Mein Großvater ist sehr besorgt um uns. Und wir sind besorgt um ihn. Also versuchen wir, uns gegenseitig so oft wie möglich anzurufen.
Ich stehe auch in Kontakt mit Freunden, die momentan in Odessa sind. Sie versuchen, ein normales Leben zu führen, aber das fällt schwer, wenn die ganze Zeit Sirenen vor Raketenangriffen warnen.
Wie sah dein Leben vor deiner Flucht aus?
Im letzten Jahr habe ich meinen Bachelorabschluss in Soziologie an der Nationalen Universität Kyjiw-Mohyla-Akademie gemacht. Danach habe ich als Praktikantin in einer Kommunikationsagentur angefangen. Dort habe ich viel gelernt und bin eine richtige Expertin geworden.
Bevor die Ukraine angegriffen wurde, hatte ich Pläne geschmiedet, diesen Sommer einen Master in Deutschland zu beginnen. Ich hatte eine Vision und Träume für meine Zukunft. Jetzt sind diese aber geplatzt. Ich weiß, dass ich in meiner Heimat gebraucht werde: Denn ich blicke voller Zuversicht auf unseren Sieg und möchte meinem Land beim Wideraufbau helfen.
Wie hast du deine ersten Tage in Deutschland erlebt?
Ich bin seit dem 30. April hier und lebe in einer WG mit zwei wundervollen deutschen Mitbewohnern. Während ich die Grenze mit dem Zug nach Frankfurt an der Oder überquerte, hat man mich und alle anderen ukrainischen Geflüchteten mit den nötigen Informationen versorgt.
Ich habe hier bereits Freund- und Bekanntschaften schließen können. Meine Mitbewohner gehören dazu. 2021 habe ich ein Erasmussemester in Gießen gemacht und konnte so auf bereits bestehende Kontakte zurückgreifen. Alle sind sehr nett, versuchen mir zu helfen, wo es nur geht, und fragen mich ständig, wie ich mich fühle. Ich weiß das sehr zu schätzen.
Vielen lieben Dank Mariia, wir wünschen dir alles Gute auf deinem Weg.
Daniel Heinz
... (25) arbeitet in der queeren und rassismuskritischen Bildungsarbeit, unter anderem für die Bildungsstätte Anne Frank. Ansonsten ist Daniel dafür bekannt, das beste Pfannkuchen-Rezept in Berlin zu haben.