Natalie Pawlik (SPD) „Ich möchte die Menschen einbeziehen“
Daniel Heinz
Natalie Pawlik kam in den 1990er Jahre als Kind von Spätaussiedlern nach Deutschland. Mit mitmischen-Autor Daniel hat sie über ihre Kindheit und ihren Wahlkreis gesprochen – und darüber, wie wichtig gute Lehrer sind.
Bad Nauheim ist eine beschauliche Stadt mit 30.000 Einwohner in Mittelhessen und bietet eine malerische Kulisse mit historischen Gebäuden und grünen Parks. Hier befindet sich der Wahlkreis von Natalie Pawlik, SPD-Bundestagsabgeordnete, die sich – so mein Eindruck – sehr für ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger engagiert. Sowohl ihre als auch meine Familie migrierten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als Spätaussiedler nach Mittelhessen. Wir haben also einige Gemeinsamkeiten und bei meinem Besuch in ihrem Wahlkreis hatte ich die Gelegenheit, mit ihr über ihre Kindheit in der alten und der neuen Heimat, über ihren politischen Werdegang und über aktuelle Herausforderungen bei ihrer Arbeit zu sprechen.
„Wahlkreisarbeit hat hohen Stellenwert“
Natalie Pawliks Büro in Bad Nauheim ist ein lebendiger Treffpunkt, an dem sie mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zusammenkommt und Gespräche mit Bürgerinnen und Bürgern führt. „Die Wahlkreisarbeit hat für mich einen sehr hohen Stellenwert“, betont sie. Ihre Heimatgemeinde sei für sie nicht nur ein politischer Raum, sondern auch ein Ort persönlicher Erinnerungen. Hier sei sie getauft und konfirmiert worden und habe ihre ersten Schritte in der Politik gemacht, erzählt sie. Denn Natalie Pawlik ist in Bad Nauheim aufgewachsen, hat hier die Grundschule besucht und im alternativen Tanzclub getanzt, in dem Kinder und Jugendliche aus mehr als 92 Nationen zusammengekommen seien.
Beginn der politischen Karriere: in der Schule
In der Schülervertretung nahm ihre politische Laufbahn ihren Anfang. Bei unserem Treffen erinnert sie sich an diese Zeit: „Ich habe mich mit Freunden in der Schülervertretung zusammengetan, weil die Schultoiletten eklig waren, erzählt Pawlik. Das war mein erster Schritt in die Politik. Wir haben uns gefragt, wie es sein kann, dass Schultoiletten so schlecht gepflegt werden und uns dagegen gewehrt.“ Dieses Erlebnis markierte den Beginn einer politischen Reise, die Natalie Pawlik zwar in den Bundestag führte, gleichzeitig habe sie aber stets eine enge Verbindung zu ihrer Heimat zu bewahrt, sagt sie.
In ihrem Wahlkreis, dem Wahlkreis 177, Wetterau I, leben mehr als 176.000 Wahlberechtigte. Bei der Bundestagswahl 2021 gewann Pawlik ihren Wahlkreis und gelangte somit per Direktmandat in den Bundestag.
Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen
Als Kind von Spätaussiedlern aus Sibirien kam sie mit sechs Jahren am 16. März 1999 nach Deutschland. Spätaussiedler sind Menschen deutscher Abstammung, die aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion in die Bundesrepublik Deutschland migrierten. Oft werden die Aussiedler auch Russlanddeutsche genannt. Sie sind Nachfahren von Siedlern, die im 18. Jahrhundert aus dem deutschsprachigen Mitteleuropa ins Russische Reich gegangen sind. Als die Wehrmacht 1941 in die Sowjetunion einmarschierte, erließ Stalin ein Dekret, mit dem alle ethnischen Deutschen in der Sowjetunion deportiert wurden und Zwangsarbeit leisten mussten. Viele Menschen starben dabei. Auch meine Familie wurde im August 1941 nach Kasachstan deportiert und in sowjetische Arbeitslager gesteckt. Nach dem Krieg konnten die Aussiedler als „deutsche Volkszugehörige“ nach Deutschland emigrieren. Die Bundesrepublik erkennt den Aussiedlerstatus aufgrund des sogenannten Kriegsfolgenschicksals an.
Heute ist Natalie nicht nur Bundestagsabgeordnete, sondern auch Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten. Somit ist sie für Fragen rund um das Thema Spätaussiedler zuständig, aber auch für Fragen, die mit den in Deutschland anerkannten nationalen Minderheiten zu tun haben: dazu gehören Sinti und Roma, Dänen, Friesen und Sorben. Sie ist die erste Russlanddeutsche, die dieses Amt innehat.
Schwieriger Start in der Schule
Die Schulzeit war für Natalie Pawlik nicht ganz einfach, denn sie musste zunächst die deutsche Sprache erlernen. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten habe sie Unterstützung durch engagierte Lehrerinnen und Lehrer gefunden. Besonders der Grundschullehrer, Herr Behrens, habe ihren Werdegang maßgeblich beeinflusst. Seine leidenschaftliche Herangehensweise an den Unterricht habe sie inspiriert und ihr dabei geholfen, sich in der Schule wohlzufühlen. „Nachdem ich in die Klasse von Herrn Behrens kam, hat mir die Schule zum ersten Mal Spaß gemacht. Er hat an mich geglaubt, und mich motiviert“, erzählt Pawlik.
Vor einem Jahr traf Natalie Pawlik Herrn Behrens erneut in Bad Nauheim. Bevor er in Rente ging, kontaktieren seine Kolleginnen und Kollegen Natalie Pawlik und baten sie, ein Video für Herrn Behrens aufzunehmen. „Ich erzähle diese Geschichte gerne, um zu zeigen, welchen Einfluss Lehrer auf die Entwicklung von Kindern haben können“, sagt Natalie Pawlik.
„Tschik“ – ein prägendes Buch
Gemeinsam gehen wir zum Johannisberg, einem malerischen Ort mit einem Restaurant. Von hier hat man schönen Blick über die Stadt. Und hier hat Natalie Pawlik als Jugendliche in einem Restaurant gekellnert.
Ebenso ist die Stadtbücherei ein besonderer Ort für Natalie Pawlik: Sie erinnert sich, dass Aussiedlerkinder in der Stadtbücherei kostenfrei Bücher ausleihen konnten. „Als wir nach Deutschland gekommen sind, hatten wir nicht mehr viele Kinderbücher“, erklärt sie. In dieser Bücherei sei sie das erste Mal mit deutscher Literatur in Berührung gekommen. Besonders geprägt habe sie der Jugendroman „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf. In diesem Buch geht es um einen russlanddeutschen Jungen namens Tschick. „Es ist meiner Meinung nach ein gutes Buch, das jugendlich geschrieben ist, einen Einblick in das alltägliche Leben und die Probleme von jungen Menschen gibt und in jede deutsche Schule gehört“, sagt sie.
Notwendigkeit des offenen Dialogs
Natalie Pawlik spricht auch über die aktuellen Herausforderungen für die deutsche Gesellschaft. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie, der russische Angriffskrieg in der Ukraine und die steigende Polarisierung innerhalb der Bevölkerung seien für sie spürbar. Sie betont die Notwendigkeit eines offenen Dialogs und einer ehrlichen Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Standpunkten, um Spaltung und Extremismus entgegenzuwirken. Auch um diesen Dialog zu ermöglichen, setze sie sich weiterhin für eine gerechte Bildung, soziale Gleichheit und eine vielfältige Gesellschaft ein.
„Wir müssen wieder mehr miteinander sprechen“
Wie sehr Politik und Pawliks Heimat miteinander verbunden sind, wird auch deutlich, als die Abgeordnete über ihr Engagement vor Ort spricht. Sie erzählt von einem Jugendzentrum in Bad Vilbel, das mit ihrer Unterstützung eröffnet wurde. Hier könnten junge Menschen nun mitgestalten und Ideen für ihre Zukunft einbringen, sagt sie. „Es ist mir wichtig, den Menschen hier Politik nahezubringen und sie direkt in Entscheidungsprozesse einzubeziehen.“ Sie habe Freude daran, Schulklassen zu besuchen und Jugendliche zu ermutigen, ihre Chancen zu nutzen.
„Ich glaube, wir müssen wieder mehr miteinander sprechen“, sagt Pawlik außerdem. Es gehe darum, Menschen abzuholen und ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Das sei in Zeiten, die von gesellschaftlichen Spaltungen und Desinformation geprägt seien, besonders wichtig.
Ein Vorbild für mich
Natalie Pawlik sieht ihre Rolle als Bundestagsabgeordnete und Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten nicht nur darin, Gesetze zu gestalten, sondern auch darin, etwas für die Menschen vor Ort zu bewegen. So wolle sie große politische Anliegen und Erfolge auch immer in positive Veränderungen in ihrer Region verwandeln.
Mir zeigt ihr Einsatz, dass engagierte Menschen unabhängig von ihrer Herkunft in der Lage sind, sich in der Bundesrepublik Deutschland politisch zu beteiligen. Für mich als Russlanddeutschen ist sie damit ein großes Vorbild.
Natalie Pawlik
Natalie Pawlik wurde 1992 in Wostok, Russland geboren. 1999 kam sie mit ihrer Familie nach Bad Nauheim, Deutschland. Nach der Schule studierte sie Geschichts- und Kulturwissenschaften und Gesellschaft und Kulturen der Moderne in Gießen. Seit 2018 ist Pawlik stellvertretende Vorsitzende der SPD Wetterau, von 2019 bis 2021 war Pawlik Vorsitzende der Jusos Hessen-Süd. Mitglied im Bundestag ist sie seit 2021. Sie ist Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten und Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Soziales.
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Daniel Heinz
... (25) arbeitet in der queeren und rassismuskritischen Bildungsarbeit, unter anderem für die Bildungsstätte Anne Frank. Ansonsten ist Daniel dafür bekannt, das beste Pfannkuchen-Rezept in Berlin zu haben.