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Feierstunde zum 75. Jahrestag der ersten Bundestagssitzung Den Parlamentarismus schützen

75 Jahre ist die erste Sitzung des ersten Deutschen Bundestages bereits her. Anlässlich dieses Jahrestages wurde in einer Feierstunde des mittlerweile 20. Deutschen Bundestages an die Hürden erinnert, die die parlamentarische Demokratie in Deutschland bereits überstanden hat und welche Herausforderungen es aktuell gibt.

mehrere festlich-gekleidete Personen betreten den Plenarsaal des Deutschen Bundestages, die Personen in den Rängen stehen.

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas betritt gemeinsam mit den anderen Mitgliedern des Präsidiums sowie den Festrednern Dr. h. c. Gerhart Rudolf Baum und Prof. Dr. Christina Morina den Plenarsaal. © Henning Schacht / DBT

Einer der Festredner war der frühere FDP-Bundestagsabgeordnete und Bundesinnenminister Dr. h. c. Gerhart Rudolf Baum. Er rief dazu auf, den Parlamentarismus zu bewahren, denn es gebe schlichtweg „keinen Ersatz für die repräsentative Demokratie“. Zugleich sei es erforderlich, dass „wir die Gefahren frühzeitig erkennen, um sie bekämpfen zu können“. Er äußerte die „berechtigte Hoffnung, dass unsere Gesellschaft die Kraft hat, den Aufbruch in eine neue Zukunft zu schaffen“.

Baum, der 1932 in Dresden geboren wurde, war 16 Jahre alt, als das Grundgesetz in Kraft trat. Seine Freunde und er hätten sich angesichts der von den Deutschen begangenen Menschheitsverbrechen geschworen, dass „so etwas nie wieder geschehen sollte“. Zu wissen, was geschehen ist und wer im Einzelnen Verantwortung trug, sei bis heute mit einer „beeindruckenden Erinnerungskultur“ geschafft worden: „Lassen wir nicht zu, dass sie wieder infrage gestellt wird. Sie hat unserer Demokratie gut getan.“

Baum sprach auch Bedrohungen an und spürte den Ursachen für den Vertrauensverlust der Parteien und der Sehnsucht nach „einfachen Lösungen“ nach. Eine Ursache sieht er in den Ängsten der Menschen, oft einer „diffusen Angst vor dem Unbekannten“. Auch das Internet sei ein Faktor. „Raus aus den Internetblasen“, lautete seine Aufforderung.

Darüber hinaus rief er dazu auf, die Menschenrechtsverteidiger weltweit zu unterstützen. Er sehe den Druck autoritärer Kräfte weltweit, sagte Baum. Es seien keine regionalen Auseinandersetzungen, sondern der Kampf um eine neue Weltordnung, „die sich nicht mehr an den Menschenrechten orientiert“.

Blick auf das Rednerpult des Deutschen Bundestages, ein älterer Mann in Anzug und Brille steht dahinter und spricht.

Dr. h. c. Gerhardt Rudolf Baum war von 1972 bis 1994 Mitglied des Deutschen Bundestages. © Henning Schacht / DBT

„Simulierte Demokratie ist keine Demokratie“

Die zweite Festrednerin, die 1976 in der DDR geborene Historikerin Prof. Dr. Christina Morina, machte in ihrer Rede die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit der deutschen Parlamentarismusgeschichte an zwei Erinnerungen fest: der DDR-Volkskammer als Scheinparlament mit verlogener Inszenierung und der Debatte über die Verbrechen der Wehrmacht und die Verantwortung der deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg am 13. März 1997 im Bundestag – aus ihrer Sicht eine „Sternstunde der deutschen Parlamentsgeschichte“. 

Dass selbst autoritäre Regime mit großem Aufwand „Volksvertretungen“ simulieren, zeige, wie fragil diese Regime seien und dass Gewalt allein auf Dauer keinen Staat mache, sagte Morina. Die Idee der Demokratie lasse sich nicht manipulieren, denn eine simulierte Demokratie sei keine Demokratie.

Morina diagnostizierte die „relativ schwache Zustimmung“ zu traditionellen Parteien und den steigenden Einfluss rechts- wie linkspopulistischer und völkisch-nationalistischer Bewegungen als derzeit prägendsten Aspekt in der Parlamentarismusgeschichte. Diese Bewegungen verbinde ein „unverhohlener Antiparlamentarismus“. Populistische und nationalistische Parteien träten an, um „im Namen des sogenannten ,Volkes‘ alle anderen Parteien nicht in die Opposition, sondern gänzlich aus der politischen Landschaft zu verdrängen“ und die demokratische Ordnung und ihre Parlamente zu entmachten. 

Eine Frau in einem schwarzen Oberteil mit bunten Ärmeln steht am Rednerpult des Deutschen Bundestages.

Prof. Dr. Christina Morina ist seit 2019 Professorin für Geschichte an der Universität Bielefeld. © Henning Schacht / DBT

Ursachen für die wachsende Zustimmung zu Forderungen solcher Parteien in Ostdeutschland sieht Morina im Nachwirken des vermeintlich „volksdemokratischen“ Erbes der SED-Diktatur und in basis- und direktdemokratischen Vorstellungen, die 1989 zum Sturz dieser Diktatur geführt hätten. Auf Volksabstimmungen beruhende Demokratieideen seien bis heute in Ostdeutschland stärker verankert als anderswo. Die repräsentative Demokratie habe es dort deutlich schwerer. Dennoch wähle die Mehrheit keine populistischen oder extremistischen Parteien.

Morina forderte, sich aus der „Logik des Populismus und Antiparlamentarismus“ zu befreien. Dieser Logik verfalle, wer die Migration zur „Mutter aller Probleme“ erkläre und „Bürgernähe“ zum Maß aller Politik stilisiere. Dieser Logik und Sprache gelte es, die Stärken des Parlamentarismus und der Parteiendemokratie selbstbewusster entgegenzuhalten. Dafür brauche es intellektuelle Energie, demokratiepolitische Fantasie und pragmatischen Einsatz, nicht nur in den Parteien. 

Es lohne sich, so die Historikerin, nicht nur aus bundes- oder westdeutscher Demokratietradition zu schöpfen, sondern auch aus der ostdeutschen Demokratiegeschichte mit ihren positiven Aufbrüchen Richtung Freiheit und „echter demokratischer Teilhabe“.

Langer Prozess gesellschaftlicher Demokratisierung

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) richtete in der Feierstunde den Blick zurück auf jenen 7. September 1949 in Bonn: „Es herrschte Feierstunde in einem Land, das ansonsten vor allem Not kannte.“ Die vielleicht größte Leistung der ersten Bundestagsabgeordneten sei gewesen, die Handlungsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie unter Beweis zu stellen. „Wir feiern heute auch den langen Prozess der Demokratisierung unserer Gesellschaft“, fügte sie hinzu. Deutschland sei ein liberales, weltoffenes und vielfältigeres Land geworden, auch dank der Zuwanderung seit den fünfziger Jahren.

Die Bundestagspräsidentin erinnerte außerdem an die Friedliche Revolution vor 35 Jahren und würdigte die Leistung der einzigen frei gewählten DDR-Volkskammer im Jahr 1990. Mit ihr hätten die Ostdeutschen der Demokratie in ganz Deutschland einen großen Dienst erwiesen. Die Offenheit der Demokratie mache sie auch verwundbar. Der Bundestag habe in 75 Jahren aber immer wieder bewiesen, dass er trotz harter Kontroversen Krisen bewältigen kann. Die Demokratie sei stark und wehrhaft gegenüber allen, „die ihr schaden wollen“. 

Die Politik sei gefordert, den Zweifeln an der Demokratie zu begegnen, indem die „konkreten Alltagsprobleme der Menschen“ angegangen werden. Bas empfahl, das Engagement der Menschen als „wichtige Kraftquelle für unsere Demokratie“ zu nutzen.

Die Feierstunde in voller Länge

Dieser Beitrag erschien zuerst auf bundestag.de.

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