DDR-Geschichte „1990 gab es die erste freie Wahl“
Paula Meister
Vor 30 Jahren war Deutschland noch geteilt, in die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik, kurz DDR. Dann kam der Mauerfall und am 18. März 1990 fand in der DDR die erste freie Wahl zur Volkskammer statt. Was damals genau los war, erklärt Historiker Clemens Villinger.
Die Volkskammer war das Parlament der DDR. 1990 konnten die Bürger zum ersten Mal frei wählen, wer sie in diesem Parlament vertreten sollte. Wie wurde denn vorher entschieden, wer dort einen Sitz bekommt?
Die Wahlen zur Volkskammer fanden bis 1971 alle vier Jahre statt, danach bis 1990 im Abstand von fünf Jahren. Das Kuriose daran war, dass die Verteilung der 500 Sitze immer schon vorher feststand. Die Parteien waren in der sogenannten „Einheitsliste der Nationalen Front“ zusammengeschlossen. Bei den Wahlen konnte dann nur diese vorbestimmte Liste gewählt werden.
Das klingt nicht gerade nach einer echten demokratischen Wahl…
Das war es auch definitiv nicht. Es stand ja wie gesagt schon vor der Wahl fest, wer einen Sitz bekommen würde. Man konnte sogar für die beschriebene Liste stimmen, indem man den Wahlzettel einfach nur gefaltet hat, ohne ihn auszufüllen. Viele Leute haben das gemacht. Man nannte das Wählen deswegen auch „Zettel falten“.
Es war weder eine freie noch eine geheime Wahl. Die Wähler wurden überwacht. Schon die Benutzung von Wahlkabinen war verdächtig. Wer seinen Wahlzettel ungültig machte, musste mit Konsequenzen rechnen. Der Staat hatte ein Interesse daran, dass möglichst viele Bürger an der Wahl teilnehmen, um den Schein der Demokratie zu wahren. Wenn du nicht wählen warst, kamen Leute zu dir nach Hause, um nachzufragen, was los ist. Tatsächlich kann man also sagen: Erst 1990 gab es die erste freie und geheime Wahl in der DDR.
Welche Rolle spielte die Volkskammer in der DDR? Waren ihre Aufgaben vergleichbar mit denen des Deutschen Bundestages?
Nein. Die Volkskammer war anders als der Deutsche Bundestag heute kein Parlament in einer repräsentativen Demokratie. Sie hat zwar auch Gesetze verabschiedet, aber es gab vorab keine Diskussionen. Meinungsverschiedenheiten wurden in der Volkskammer nicht ausgetragen. Und bei den Abstimmungen gab es nie Gegenstimmen.
Wirklich nie?
Eine einzige Ausnahme gab es, das ist ein interessanter Fall: Bei der Diskussion um den Schwangerschaftsabbruch nach 1972 kam es tatsächlich dazu, dass manche Abgeordnete gegen ein Gesetz stimmten. Das hatte allerdings keine Auswirkungen.
Die Abgeordneten in der Volkskammer hatten also im Prinzip keine Macht?
Die eigentliche Macht übte in der DDR die SED aus, die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands. Sie traf die Entscheidungen, die die Volkskammer dann nur noch abnickte. Die Volkskammer hatte keine Macht. Im Prinzip hatte sie hauptsächlich eine repräsentative Funktion. Nach außen hin sollte es den Anschein machen, als sei die DDR keine reine Diktatur – denn es gab ja pro forma auch ein Parlament.
Welche Entwicklungen führten zur ersten freien Volkskammerwahl?
Wichtig war die Kommunalwahl der DDR im Mai 1989. Damals organisierten Bürgerrechtsgruppen, dass die Auszählung der Wahlstimmen landesweit beobachtet wurden. Die Beobachter stellten sich in die Wahlbüros und zählten mit. Dabei stellte sich sehr schnell heraus, dass bei den Wahlen betrogen wurde. Vorher hatte man das der SED nie nachweisen können. Ab Juni 1989 gab es dann monatliche Protest-Veranstaltungen gegen diesen Wahlbetrug in der DDR.
In den Sommerferien 1989 kam es zu einer großen Ausreise-Welle: Viele tausend Menschen versuchten, über Ungarn die DDR zu verlassen und in die Bundesrepublik zu kommen. Parallel dazu entwickelte sich die Bürgerrechtsbewegung in der DDR immer weiter. Einen Höhepunkt erreichten die Proteste kurz nach dem 40. Gründungstag der DDR: Im Oktober 1989 gingen 70.000 Menschen bei der Montagsdemonstration in Leipzig auf die Straße. Diese Demonstrationen fanden dann immer regelmäßiger statt und übten Druck auf die Regierung aus.
Bis die DDR schließlich die Mauer öffnete...
Genau. Im November 1989 kam es dann zum legendären Mauerfall, den die Ost-Berliner Bevölkerung erzwang. Gleich danach gab es einen Regierungswechsel in der DDR. Allerdings war die neue Regierung ja nicht aus demokratischen Wahlen hervorgegangen, sie war also nicht legitimiert.
Um die neue Regierung zu kontrollieren, gründeten Bürgerrechtsgruppen den Zentralen Runden Tisch in Ostberlin und in vielen anderen Städten in Ostdeutschland. Das Problem war, dass weder die Regierung noch diese Runden Tische eine demokratische Legitimation hatten. Für die Bundesrepublik war das ein großes Problem – sie wollte mit jemandem über die Zukunft Deutschlands verhandeln, der dazu berechtigt war, Entscheidungen zu treffen.
Deshalb musste eine demokratische Wahl her?
Richtig. Der Runde Tisch und die Regierung einigen sich auf Neuwahlen im Mai 1990. Weil aber immer noch zehntausende Menschen auswanderten und die Wirtschaftslage sich verschlechterte, wurde die Wahl auf den 18. März vorverlegt.
Wie reagierten die Menschen darauf, dass sie plötzlich frei wählen durften?
Ein Großteil der Menschen hat die freie Wahl sicherlich begrüßt. Zwar hatten die DDR-Bürger wenig Erfahrung mit freien Wahlen, aber viele wussten – zum Beispiel aus dem eigentlich verbotenen West-Fernsehen – wie Wahlen anderswo ablaufen.
Am 18. März 1990 gingen 93,4 Prozent der DDR-Bürger zur Wahl, das ist eine unglaublich hohe Wahlbeteiligung. Daraus kann man durchaus eine sehr hohe Akzeptanz der Wahl ableiten.
Welche Parteien traten zur Wahl an? Und wie war das Ergebnis?
Der Gewinner der Wahl war die Allianz für Deutschland, ein Zusammenschluss aus der CDU-Ost, der Deutschen Sozialunion und dem Demokratischen Aufbruch, einer Bürgerrechtsbewegung. Sie strebte einen möglichst schnellen Anschluss an die Bundesrepublik an, unter Übernahme des demokratischen und wirtschaftlichen Systems des Westens. Offensichtlich wollten das auch viele DDR-Bürger – die Allianz bekam über 48 Prozent der Stimmen.
Viele Beobachter hatten vorab auf die SPD gesetzt, die aber nur 21 Prozent erhielt. Die SPD hatte eher einen Mittelweg geplant, natürlich wollte auch sie Demokratie und freie Marktwirtschaft einführen, sie wollte die Anpassung aber behutsamer angehen.
Die ehemalige SED hatte sich in PDS umbenannt und erhielt 16 Prozent der Stimmen. Ihr Plan war es, die Eigenstaatlichkeit der DDR beizubehalten und einen demokratischen Sozialismus einzuführen.
Schließlich trat noch Bündnis90/Die Grünen an, ein Zusammenschluss aus Oppositionsgruppen. Diese Gruppen, viele von ihnen Initiatoren der Proteste von 1989, hatten damals einen dritten Weg zum Ziel, eine Mischung aus Demokratie und Sozialismus. Mit 2,9 Prozent erreichten sie allerdings nur eine sehr niedrige Stimmzahl.
Am 18. März wurde die Volkskammer gewählt, am 23. August beschloss sie, dass die DDR der Bundesrepublik Deutschland beitreten würde. Was passierte danach mit den Abgeordneten der Volkskammer?
Sie tagten zunächst weiter, in 38 Sitzungen. Am 2. Oktober, einen Tag vor der deutschen Einheit, fand die letzte Sitzung statt. Nach der Auflösung der DDR zogen 144 zuvor gewählte Abgeordnete in den Deutschen Bundestag ein. Den Bundestag gab es in dieser Zusammensetzung aber dann auch nur noch zwei weitere Monate, da im Dezember 1990 die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl stattfand.
Die Hauptaufgabe der Volkskammer zwischen März und Oktober 1990 war es, die Integration in die Bundesrepublik vorzubereiten. Dafür arbeiteten sie eng mit Arbeitsgruppen aus der Bundesrepublik zusammen. Insofern kann man sagen, dass die erste freie Volkskammerwahl die Voraussetzung für den deutschen Einigungsvertrag war.
Über Clemens Villinger
Clemens Villinger kommt aus Bremen und hat in Dresden und Berlin Geschichte studiert. Bei der Stiftung Berliner Mauer machte er ein Volontariat. Derzeit promoviert er am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam zur Konsumgeschichte der DDR und Ostdeutschlands vor, während und nach 1989/90.
Mehr Informationen über die Volkskammer findet ihr auf der Themen-Seite des Bundestages.
Paula Meister
studiert Politik, Wirtschaft, Geschichte und Soziologie in Frankreich. Besonders gerne trägt sie bunte Socken und bastelt. Aus diesem Grund sammelt sie das bei Bastlern beliebte Washitape und gemusterte Socken.