Gedenkstunde „Von uns allen hängt es ab“
Politikerinnen und Politiker des Bundestages gedachten der Millionen Opfer der Nazis und empfingen zwei besondere Gäste. Es ging auch um aktuelle Gefahren für die Demokratie, Zukunftsträume und eine Botschaft an die Jugend.
„Wir gedenken der Millionen Menschen, die verfolgt, beraubt, gedemütigt, entrechtet, gequält, dem Tode preisgegeben wurden. Weil sie anders dachten, anders glaubten, anders liebten oder weil ihr Leben den Nationalsozialisten als ‚unwert‘ galt.“ So begann Bundestagspräsidentin Bärbel Bas ihre Rede im Plenarsaal am 27. Januar. Jedes Jahr um diese Zeit erinnern die Abgeordneten an die Opfer des Nationalsozialismus.
Zur Erklärung: Der Nationalsozialismus war eine politische Bewegung, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs im Jahr 1919 entstand. Die Nationalsozialisten, man sagt auch Nazis, teilten Menschen in Gruppen ein und behaupteten, es gebe „höherwertige“ und „minderwertige“. Unter ihrem Führer Adolf Hitler errichteten die Nazis ab 1933 eine Diktatur und begannen, gezielt Menschen zu verfolgen, Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle und andere. Sie verhafteten und sperrten sie in Arbeits- und Konzentrationslager, wo sie sehr hart arbeiten mussten, oft an Hunger und Krankheit starben oder gleich umgebracht wurden.
Nachdem die Nazis den Zweiten Weltkrieg begannen, verfolgten und töteten sie auch die Jüdinnen und Juden in den von ihnen besetzen Ländern. Am Ende des Krieges, im Jahr 1945, hatten die Nazis mehr als sechs Millionen Jüdinnen und Juden ermordet. Dieser Massenmord wird Holocaust genannt.
Anlass des Gedenktages ist ein historisches Ereignis im Jahr 1945: Am 27. Januar vor mehr als 70 Jahren wurden die Gefangenen des deutschen Konzentrationslagers Auschwitz (im besetzten Polen) befreit, des größten Arbeits- und Vernichtungslagers der Nationalsozialisten. In Auschwitz waren mehr als eine Million Menschen ermordet worden, die allermeisten von ihnen waren Jüdinnen und Juden.
"Weit weg und völlig unvorstellbar"
„Heute ist deswegen auch ein Tag der Scham über das, was frühere Generationen Deutscher getan haben“, sagte Bas weiter. Es sei wichtig, an diese schreckliche Zeit, die für die meisten von uns „weit weg und völlig unvorstellbar“ sei, zu erinnern. Doch: „Erinnerungskultur lässt sich nicht von oben verordnen. Sie erschöpft sich nicht in staatlichen Ritualen wie diesem alljährlichen Gedenkakt.“
Erinnern bleibe nur lebendig, „wenn wir immer wieder von Neuem Fragen an die Geschichte stellen und nach Antworten suchen. Das gilt gerade für junge Menschen“, so die Bundestagspräsidentin. Sie würdigte besonders Schulen, Gedenkstätten und Museen, die dazu beitrügen.
Von der Vergangenheit in die Gegenwart: „Der Antisemitismus ist da“
Doch leider verhindere das Gedenken nicht, dass auch heute noch Menschen Vorurteile gegen Jüdinnen und Juden hätten: „Der Antisemitismus ist da. Er findet sich nicht nur am äußersten Rand, nicht nur bei den ewig Unbelehrbaren und ein paar antisemitischen Trollen im Netz. Er ist ein Problem unserer Gesellschaft. Der ganzen Gesellschaft. Der Antisemitismus ist mitten unter uns“, sagte Bas.
Die Demokratie müsse sich wappnen gegenüber allen, die andere ablehnen, weil sie anders seien. „Die Toleranz für sich einfordern, aber für den Pluralismus nur Verachtung übrighaben. Die Lügen verbreiten, um zu verunsichern. Die zu Hass und Gewalt aufstacheln – und sich im Nachhinein mit empörter Geste distanzieren.“
„Von uns allen hängt es ab“
Bas forderte mehr „Mut zur Intoleranz“. Denn: „Wenn Rechtsextremisten, Geschichtsrevisionisten und Völkisch-Nationale Wahlerfolge feiern, dann ist das kein Alarmzeichen. Dann ist es allerhöchste Zeit zu handeln.“
Die Bundestagspräsidentin forderte ihre Zuhörerinnen und Zuhörer auf, „zusammenzustehen, um die Werte und Institutionen unserer freien, demokratischen Gesellschaft zu beschützen.“ Die Demokratie brauche immer Bürgerinnen und Bürger, die für sie einstünden und sie damit am Leben hielten. „Auch daran erinnern uns dieser Tag und die deutsche Geschichte: Von uns allen hängt es ab.“
„Der Krebs ist wieder erwacht“
Auch Inge Auerbacher plädierte für einen gemeinsamen, hoffnungsvollen Blick in die Zukunft. Die 87-Jährige war als Holocaust-Überlebende zur Gedenkstunde eingeladen. Als siebenjähriges Mädchen war sie von den Nationalsozialisten ins Konzentrationslager Theresienstadt gebracht worden, wo sie drei schreckliche Jahre blieb. Im Bundestag erzählte sie eindrücklich von ihren Erinnerungen an diese „grauenhafte Zeit des Schreckens und des Menschenhasses“.
Und sie mahnte: „Leider ist dieser Krebs wieder erwacht.“ Der Judenhass sei wieder alltäglich geworden, auch in Deutschland. „Diese Krankheit muss so schnell wie möglich geheilt werden“, sagte Inge Auerbacher. „Menschenhass ist etwas Schreckliches. Wir sind alle als Brüder und Schwestern geboren. Mein sehnlichster Wunsch ist die Versöhnung aller Menschen.“ Zum Schluss ihrer Rede blickte Frau Auerbacher nach vorn: „Lasst uns gemeinsam einen neuen Morgen sehen!“
„Israel verlässt sich auf Sie!“
Nach Inge Auerbacher sprach Mickey Levy im Plenarsaal. Er ist Präsident der Knesset, so heißt das Parlament in Israel – dem Staat, der nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurde, um Jüdinnen und Juden eine sichere Heimat zu sein.
„Die Erinnerungsarbeit verbindet unsere beiden Völker“, sagte Mickey Levy im Bundestag. Das Reichstagsgebäude sei zu Zeiten der Nationalsozialisten ein Ort gewesen, an dem „die Menschen die Grenzen des Bösen ausgedehnt“ hätten. Gerade deshalb sei es der richtige Ort, um „zu verstehen, wie fragil Demokratie ist“. Und er ergänzte: „Abermals werden wir in die Pflicht genommen, sie um jeden Preis zu verteidigen.“
Deutschland nehme seine geschichtliche Verantwortung wahr und habe „die Sicherheit Israels zu einem Grundpfeiler seiner Außenpolitik gemacht“. Deutschland beziehe Stellung gegen Antisemitismus, dafür danke Mickey Levy: „Der Staat Israel verlässt sich auf Sie!“
Ihm sei es wichtig, weiter gemeinsam an den Beziehungen zwischen den beiden Staaten zu arbeiten, die gemeinsamen Werte wie Demokratie, Freiheit und Toleranz zu wahren und „gemeinsam eine vielversprechende Zukunft zu schaffen.“
Hier könnt ihr euch die Gedenkstunde im Video ansehen:
(jk)