Schulamtsleiter Torsten Klieme „Geflüchtete Jugendliche brauchen Normalität“
Viele geflüchtete Kinder und Jugendliche aus der Ukraine brauchen jetzt hierzulande einen Schulplatz. Was ist dabei wichtig für sie und wie können deutsche Schülerinnen und Schüler ihnen helfen? Antworten hat Torsten Klieme, Schulamtsleiter aus Bremen.
Herr Klieme, können Sie sich vorstellen, wie es sich anfühlt, als Jugendliche(r) an eine deutsche Schule zu kommen, in der man niemanden kennt und wo man kein Wort versteht?
Das können wir alle uns natürlich nicht so ganz vorstellen. Auf der anderen Seite müssen wir versuchen, uns so gut es geht in die Lage der Jugendlichen zu versetzen. Und da helfen uns die Erfahrungen der letzten Jahre. Wir haben seit der Welle der Geflüchteten im Jahr 2015 viel Erfahrung mit Kindern und Jugendlichen sammeln können, die neu an unsere Schulen gekommen sind und konnten bereits viel lernen.
Haben Sie ein Beispiel?
Wir haben beispielsweise gelernt, dass wir nicht nur auf den Unterricht und die Rahmenbedingungen gucken müssen, sondern dass wir auch solche Dinge wie Traumapädagogik, schulpsychologische Begleitung und Freizeitangebote berücksichtigen müssen. Es ist wichtig, Möglichkeiten für die Schüler und Schülerinnen zu schaffen, wieder ungestört Kinder oder Jugendliche sein zu können. Das nehmen wir jetzt von Anfang an viel stärker mit in den Blick.
Mit wie vielen neuen Schülerinnen und Schülern rechnen Sie?
Wir wissen noch nicht ganz genau, wie viele es werden. Aber es gibt erste Schätzungen, die sagen, es könnten bis zu 400.000 Schülerinnen und Schüler in Deutschland werden. In Bremen rechnen wir im Moment mit etwa 2.000 bis 2.500. Es könnten aber auch durchaus mehr werden. Das ist für uns eine sehr große Zahl.
Werden die ukrainischen Schüler in bestehende Klassen integriert oder gibt es spezielle Klassen? Wie werden sie beim Lernen der deutschen Sprache unterstützt?
Wir greifen derzeit auf ganz unterschiedliche Modelle zurück. Wir glauben, dass es für Kinder und Jugendliche immens wichtig ist, so schnell wie möglich Normalität herzustellen. Und Normalität für Kinder bedeutet, dass sie in die Schule gehen können. Das heißt gerade am Anfang, in der Phase bis zu den Sommerferien, ist es am wichtigsten, dass alle Kinder ein Schulangebot bekommen.
Und deswegen werden wir verschiedene Maßnahmen ergreifen: Wir werden Kinder in bestehende Vorkurs-Systeme integrieren, in denen sie von Anfang an Deutsch lernen können und in denen sie in die deutsche Schule integriert werden. Kleinere Kinder, besonders im Grundschulalter, werden wir eher in bestehende Klassen aufnehmen, da es für sie gut möglich ist, schnell im Umgang mit anderen Kindern Deutsch zu lernen. Und wir werden auch Möglichkeiten nutzen, an einzelnen Stellen Willkommensklassen einzurichten.
Sie sagten, es sei am wichtigsten, schnell Normalität herzustellen. Heißt das auch, dass es wichtiger ist, einen geregelten Alltag mit festen Abläufen anzubieten als beim Stoff auf dem aktuellen Stand zu bleiben?
Dass Kinder und Jugendliche wieder einen stabilen Rahmen und eine Struktur in ihren Alltag bekommen, ist ungemein wichtig, ja. Auch dass sie sich mit anderen Kindern und Jugendlichen im gleichen Alltag treffen können und dass es einen sozialen Austausch gibt. Sie sollen in einer geschützten Atmosphäre wieder lernen, spielen und leben können.
Dennoch ist Unterrichtsstoff natürlich nicht unwichtig, aber es gibt eben ganz viele andere Dinge, die genauso wichtig sind.
Bundesweit brauche Deutschland ungefähr 24.000 weitere Lehrkräfte, sagt die Präsidentin der Kultusministerkonferenz Karin Prien (CDU). Wie ist die Situation im kleinsten Bundesland Bremen?
Die Situation in Bremen entspricht der Situation im Rest der Bundesrepublik: Wir haben seit mehreren Jahren deutschlandweit steigende Schülerzahlen. Damit verbunden gibt es einen starken Druck, wir haben einen Fachkräftemangel.
Wir müssen zusätzliche Ressourcen mobilisieren. Zum einen werden wir versuchen, Menschen einzustellen, die vor allem mit Integration, Sprachbildung und Deutsch als Zweit- oder Fremdsprache zu tun haben und entsprechende Qualifikationen mitbringen.
Die zweite Gruppe, die wir im Auge haben, sind die geflüchteten Lehrer und Lehrerinnen aus der Ukraine. Die möchten wir in die Unterrichtung und Beschulung mit einbeziehen. Es geht ja nicht nur um das Erlernen der deutschen Sprachen. Sondern es geht auch um Jugendliche, die etwa auf das Erlangen eines Schulabschlusses vorbereiten werden müssen. So könnte eine neunte Klasse aus der Ukraine zunächst beispielsweise Mathe oder Chemie auf Ukrainisch weiterlernen.
Ein Vorschlag ist, Lehrkräfte aus dem Ruhestand zurück an die Schulen zu bringen. Eine gute Idee?
Ja. Das sind Lehrkräfte mit einem extrem großen Erfahrungsschatz. Sie haben über viele Jahre vielen Schülern und Schülerinnen wesentliche Kompetenzen vermittelt. Und wir in Bremen haben diese pensionierten Lehrkräfte bereits angesprochen und gefragt, ob sie bereit wären uns in der derzeitigen Lage zu unterstützen.
Neben Lehrkräften brauchen zusätzliche Schüler auch zusätzliche Räumlichkeiten. Gibt es hier genug?
Nein. Wir sind schon seit Wochen im Einsatz, um zusätzliche Möglichkeiten zu erkunden und für den Unterricht fit zu machen. Ein Beispiel: Wir haben in einem Bremer Stadtteil eine bestehende Schule neu gebaut. In der Übergangszeit war diese Schule in sogenannten Mobilbauten untergebracht. Das sind gute moderne Container, in denen man richtig schön Schule machen kann. Diese Mobilbauten sind vor den Osterferien frei geworden, weil die Schule fertiggestellt wurde. Der Mobilbau bleibt nun einfach bestehen, sodass wir dort Platz für bis zu 350 Schüler haben.
Was können deutsche Kinder und Jugendliche machen, um den ukrainischen Schülern bei der Integration zu helfen?
Alles, was man machen kann, um Menschen willkommen zu heißen. Das ist manchmal gar nicht so kompliziert: Kontakt ermöglichen, ins Spielen einbeziehen, die neuen Kinder und Jugendlichen in den Sportverein, in den Chor oder die Malgruppe mitnehmen. Man kann gemeinsam ins Kino oder durch die Stadt gehen. Mein Rat: Ladet eure neuen Mitschülerinnen und -schüler zu all den Dingen ein, die Kinder gerne gemeinsam machen! Geht aktiv und offen auf sie zu und unterstützt sie dadurch, sich in ihrer neuen Umgebung zurechtzufinden!
Viele Kinder und Jugendliche machen das auch von ganz allein. Die Schüler der Grundschule, die neben den eben erwähnten Mobilbauten steht, haben zum Beispiel ganz spontan Willkommensplakate gemalt. Diese Idee kam von den Schülern, weil sie gerne etwas machen wollten, damit sich die neuen Schüler vom ersten Tag an willkommen fühlen.
Über Torsten Klieme
Torsten Klieme wurde 1965 in der Lutherstadt Wittenberg geboren. Nach der Schule studierte er Sport und Geschichte auf Lehramt für Haupt- und Realschule. Von 1998 bis 2012 arbeitete er im Kultusministerium Sachsen- Anhalt und war von 2012 bis 2016 Direktor des Landesschulamts Sachsen-Anhalt. Seit 2020 ist er Abteilungsleiter bei der Senatorin für Kinder und Bildung in Bremen.
(Mira Knauf)