Pro und Contra Sollte es eine Wehrpflicht geben?
Der russische Angriffskrieg hat die Diskussionen um die Wehrpflicht zuletzt wieder aufflammen lassen. Sollte sie wieder eingeführt werden? Kolja sagt nein, Nikolaus findet Argumente dafür.
Nikolaus, 20: „Durch eine Dienstpflicht würden wir viel lernen“
Seit 2011 ist die Wehrpflicht in Deutschland ausgesetzt und mit ihr auch der Zivildienst. Die Debatte um eine mögliche Reaktivierung wird aktuell wieder mit hoher Intensität geführt. Und mal angenommen, alle Bürgerinnen und Bürger müssten irgendwann zwischen dem 16. und 26. Lebensjahr sechs oder zwölf Monate einen beliebigen Dienst leisten: Was würde das bedeuten? Und welche Effekte könnte eine neue Dienstpflicht mit sich bringen?
Positive Auswirkungen auf die Gesellschaft
Ich bin mir sicher, die positiven Auswirkungen auf Menschen und Gesellschaft wären groß. Junge Menschen würden soziale, moralische und praktische Kompetenzen erlernen. Denn tatsächlich gibt es Personen, die bis zu ihrem 30. Lebensjahr nicht ein einziges Mal arbeiten und deshalb oft eine stark eingeschränkte Sicht auf die Welt entwickeln. Ein Zivildienst – und in Teilen – wohl auch der Wehrdienst können den eigenen Horizont, den Erfahrungsschatz schon früh erweitern. Außerdem bringen diese Dienste Jugendliche aus allen sozialen Klassen und Hintergründen zusammen. So könnte ein Jahr Militär- oder Zivildienst für eine viel durchmischtere Gesellschaft sorgen und dabei junge Menschen in verschiedensten Bereichen qualifizieren.
Eine Antwort auf den Personalmangel?
Die große Zahl potenzieller Zivildienstleistender könnte hilfreich im Hinblick auf die vielen Personalengpässe im sozialen Bereich sein und sie, zumindest teilweise, dämpfen, auch wenn es sich bei Zivildienstleistenden niemals um einen Ersatz für ausgebildete Fachkräfte handeln kann.
Es wäre jedoch vorstellbar, dass ein Zivildienst bei jungen Menschen das Interesse an den jeweiligen Berufsfeldern weckt. Nach einem Jahr im Seniorenheim entscheidet man sich beispielsweise für eine Pflegeausbildung, oder ein ökologischer Zivildienst begeistert mehr Leute für Landwirtschaft und Naturschutz. Die Möglichkeiten sind dabei vielfältig, zumal ein Zivildienst nicht zwingend sozialer Natur sein muss.
Vernetzung in der Arbeitswelt
Oft hört man, den jungen Menschen fehle es an Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Natürlich ist das aber eine Eigenschaft, die gesamtgesellschaftlich ungemein wichtig ist und durch einen Zivildienst gefördert werden könnte.
Als nicht zu verachtender Nebenaspekt eines verpflichtenden Wehr- oder Zivildienstes lässt sich außerdem die damit gebotene Möglichkeit zur Vernetzung mit Gleichaltrigen, aber auch anderen Arbeitenden anführen. Womöglich können so direkt Verbindungen für das künftige Arbeitsleben geknüpft werden.
Eine diverse Bundeswehr
Für die Wiedereinführung der Wehrpflicht spricht außerdem auch die damit verbundene Diversifizierung der Bundeswehr. Die Bundeswehr gerät immer wieder durch rechts-nationalistische Tendenzen in einigen Einheiten in die Kritik. Die lassen sich unter anderem darauf zurückführen, dass sich momentan besonders bestimmte Menschen zum Dienst an der Waffe hingezogen fühlen – oft wohl mit eher konservativen bis rechten Einstellungen. Eine Durchmischung mit jungen Menschen aus anderen gesellschaftlichen und sozialen Schichten könnte dem entgegenwirken.
Krieg in Europa
Der russische Krieg in der Ukraine ist ein weiterer Faktor, der nun in der Diskussion um die Wehrpflicht eine Rolle spielt. Die faktische militärische Bedrohung in Europa ist mit dem Überfall auf das ukrainische Staatsgebiet deutlich gestiegen und ein Grund für den langfristigen Widerstand, den die ukrainischen Streitkräfte leisten können, liegt in der dortigen Wehrpflicht. Im Erntsfall würde auch Deutschland durch die Wehrpflicht über eine größere Menge gut ausgebildeter Kräfte verfügen. Das wären Soldatinnen und Soldaten, aber auch Fachkräfte in Bereichen wie Cyber-Sicherheit, Technik oder Medizin.
Katastrophenschutz zunehmend wichtiger
In Hinblick auf den Klimawandel ist auch der Katastrophenschutz nicht zu vernachlässigen. Dieser ist bisher nicht Hauptbestandteil der Bundeswehr-Ausbildung, könnte jedoch ein wichtiger Punkt werden. Angesichts steigender Umweltkatastrophen und klimatischer Belastungen könnten künftig auch hier deutlich mehr Einsatzkräfte notwendig werden. Eine Wehr- oder Dienstpflicht würde auch auf diesen Feldern eine Grundausbildung ermöglichen.
Es geht um mehr als militärische Ausbildung
Wichtig finde ich, zu betonen, dass Wehrpflicht deutlich mehr beinhaltet als eine Generation von Soldatinnen und Soldaten heranzuziehen, sondern vor allem das Erlernen verschiedener Kompetenzen mit sich bringt. Ähnlich wie die Schulpflicht könnte dies den Menschen in ihrer persönlichen Entwicklung weiterhelfen.
Die wenigsten Kinder und Jugendlichen gehen jeden Tag gern zur Schule, am Ende haben sie in den meisten Fällen trotzdem etwas davon. Warum also nicht auch ein Jahr verpflichtendes Lernen in anderen Bereichen? Natürlich schränkt eine Dienstpflicht junge Menschen mehr oder weniger in ihrer Lebensgestaltung ein, aber eben auch nur kurzfristig und nicht mehr als etwa die Schulpflicht. Der Zugewinn an Wissen und neuen Fähigkeiten und der Beitrag zur Gesellschaft sind jedenfalls kein schlechtes Argument.
Vielfalt in allen Bereichen des Lebens
Höchstwahrscheinlich würden Jugendliche mit einer Dienstpflicht außerdem zu mehr Rücksicht, Hilfsbereitschaft und Selbstlosigkeit erzogen werden. Und sind das nicht genau die Eigenschaften, denen es in unserer viel zu eigennützigen, egozentrischen und gewinnorientierten Gesellschaft fehlt? Die Demokratie benötigt zwingend Vielfalt in allen Bereichen des Lebens. Somit sind Maßnahmen, die Vielfalt in bestimmten Berufs-, Interessen- oder sozialen Gruppen fördern, immer auch ein Beitrag zur Demokratieförderung.
Kolja, 20: „Unsere Generation braucht keinen Pflichtdienst“
Lange hatte der deutsche Staat die Möglichkeit, junge Männer einer Grundausbildung zu unterziehen oder sie in den Kriegsdienst einzuziehen. Die gesetzliche Grundlage bot Artikel 12a des Grundgesetzes. Was viele nicht wissen: Die Wehrpflicht ist nicht aus dem Grundgesetz gestrichen worden, sondern seit 2011 nur durch eine Änderung des Wehrpflichtgesetzes ausgesetzt. Spätestens seit Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine ist die Diskussion um eine Wiedereinführung der Wehrpflicht in Deutschland wieder stärker in den Fokus gerückt. Und ich stelle mir viele Fragen: praktische und moralische.
Einschränkung der Freiheit
Artikel 12a unseres Grundgesetzes bestimmt, dass „Männer vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden” können. Wer aus moralischen Gründen den Dienst an der Waffe verweigert, kann zu einem Ersatzdienst herangezogen werden.
Freiheitsrechte sind hohe verfassungsrechtlich geschützte Güter, die nur aus höherem Grunde eingeschränkt werden können. Die Pandemie hat uns gezeigt, wie es sich anfühlen kann, wenn der Staat die Rechte vorrübergehen einschränkt. Es gilt auszuloten, ob die Stärkung der Armee ein solcher Grund sein könnte. Werden junge Männer – so steht es im Grundgesetz – zum Wehrdienst und damit im Ernstfall zum Kriegsdienst an der Waffe verpflichtet, werden sie ihrer Freiheitsrechte beraubt. Hat die Verteidigung des Landes einen höheren Wert als die individuelle Freiheit und das Recht auf Entwicklung ohne Zwang und Gehorsam?
Junge Leute in maroden Kasernen
Dabei sollten wir eins nicht vergessen: Die Bundeswehr führt eine inzwischen lange Mängelliste. Marode Decken in den Kasernen, überbelegte Zimmer, Duschcontainer vor den Gebäuden, weil in den Nasszellen Legionellen-Gefahr herrscht, eine Handvoll Toiletten für hunderte Soldaten und Soldatinnen. Laut der Wehrbeauftragten Eva Högl mangelt es bei der Bundeswehr an allen Ecken und Enden. Die Kasernen nun mit zehntausenden Jugendlichen zu fluten, scheint für alle unzumutbar.
Es sollte deshalb meiner Meinung nach Priorität haben, die Bundeswehr effizient und wehrfähig zu machen, denn vielleicht wird sie dann auch interessanter für junge Menschen – ganz aus freien Stücken und ohne eine Pflicht.
Streit um soziales Pflichtjahr
Ich finde außerdem wichtig anzumerken, dass wir die Diskussion um den Wehrdienst nicht mit der Forderung nach einem (europäischen) Zivildienst verwechseln dürfen. Ein soziales Pflichtjahr forderte im vergangenen Jahr unter anderem Bundespräsident Steinmeier. Heftigen Gegenwind erhielt er bei einer Debatte im Schloss Bellevue von vielen jungen Menschen. Wer fordere, dass sich junge Menschen endlich für die Gesellschaft engagieren, verschließe die Augen davor, dass die Generation politischer nicht sein könnte, hieß es. Die Forderung nach einem Solidaritätsdienst für junge Menschen unterstellt uns, dass wir faul, unsolidarisch und unpolitisch seien.
Wir, die Leidtragenden der Klimakatastrophe, dürfen uns nicht von der Generation, die sie mit verursacht hat, vorschreiben lassen, wie wir unsere Jugend zu verbringen haben – etwa mit einem Pflichtdienst. Denn das ist die Zeit, die unabdingbar für die freie Entfaltung, für die persönliche Entwicklung ist.
Laut dem Soziologen Dr. Klaus Hurrelmann ist die Generation der heute 15 bis 25-jährigen, die Politischste seit den 68er Jahren. Uns Verdrossenheit und Unsolidarität zu unterstellen, um mehr Engagement zu fordern, macht mich wütend. Denn wir sind es, die seit Jahren für mehr Gerechtigkeit auf die Straßen gehen. Ich finde deshalb, dass man es den jungen Leuten überlassen sollte, sich aus freien Stücken für soziales Engagement zu entscheiden.
Fachkräftemangel würde verstärkt
Zu guter Letzt spricht noch eine Sache gegen eine allgemeine Wehrpflicht: der große Fachkräftemangel. In vielen Branchen fehlen viele gelernte Arbeitskräfte. Wie können wir da rechtfertigen, einen großen Teil der 18-Jährigen für ein Jahr in Kasernen zu sperren?
Die Gedanken sind frei – und ich finde, wenn es mir widerstrebt, mein Land zu verteidigen und schlimmstenfalls Menschen zu töten, dann muss es mir freistehen, mich dagegen zu entscheiden.