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IS-Terror Bundestag erkennt Verbrechen an Êzîden als Völkermord an

Yasemin Kamisli

Êzîdinnen und Êzîden wurden von der Terrormiliz „Islamischer Staat“ brutal versklavt, misshandelt und getötet. Der Bundestag erkennt diese Gräueltaten nun erstmals als Genozid an.

Demonstrierende Menschen mit Fahnen und Schildern vor dem Bundestag

Seit Jahren kämpfen Jesidinnen und Jesiden um Anerkennung – auch in Deutschland, wo viele von ihnen inzwischen leben. © picture alliance/Zumapress.com/Jan Scheunert

Êzîden sind eine ethnisch-religiöse Gruppe, die ursprünglich hauptsächlich im nördlichen Irak, in Nordsyrien und der südöstlichen Türkei lebten. Weil sie seit dem 19. Jahrhundert immer wieder Verfolgungen ausgesetzt waren, leben inzwischen auch viele von ihnen in Europa, in Deutschland derzeit schätzungsweise etwa 200.000.

Seit 2014 werden die Êzîden im Norden Iraks, in der sogenannten Sindschar-Region, von der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) als „Ungläubige“ verfolgt und systematisch ermordet. Allein im Jahr 2014 wurden mehr als 5.000 Êzîden ermordet. Insgesamt wurden Zehntausende der religiösen Minderheit getötet, verschleppt, versklavt und misshandelt.

Nun erkennt der Bundestag diese Verbrechen erstmals als Genozid an. Die Ampel-Koalition stellte gemeinsam mit der Unionsfraktion einen entsprechenden Antrag, welcher im Bundestag einstimmig angenommen wurde. Aus diesem geht hervor, dass es sich bei den IS-Verbrechen gegen die Êzîden „auf irakischem Territorium im Jahr 2014 um einen Völkermord im Sinne des Übereinkommens über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes der Vereinten Nationen handelt“. Die Abgeordneten fordern die Bundesregierung dazu auf, internationale und nationale Strukturen zur Aufarbeitung des Völkermordes weiterhin zu fördern.

SPD: „Ein Völkermord verjährt niemals“

„Das erklärte Ziel der IS-Terroristen war die systematische Auslöschung der Êzîden“, sagte Derya Türk-Nachbauer (SPD). „Frauen, Töchter und Kinder mussten damals mitansehen, wie IS-Kämpfer in die Dörfer eindrangen und ihre Männer, Väter und Brüder ermordeten.“ Heute lebten rund 300.000 Êzîdinnen in irakischen Flüchtlingslagern, wo sie „vergeblich auf eine Rückkehr in ihre Heimat warten.“ Türk-Nachbaur sei selbst mit einer SPD-Delegation vor Ort gewesen, wobei sie das Leid und die Perspektivlosigkeit der Frauen und Kinder sehr berührt habe. „Sie brauchen Unterstützung beim Wiederaufbau ihrer Dörfer im Shingal“, so Türk-Nachbaur. Auf Deutschlands Hilfe sei Verlass. Das brutale Handeln des IS müsse bestraft werden: „Denn eins ist klar – ein Völkermord verjährt niemals.“

Grüne: „Deutschlands Schweigen hat Menschenleben gekostet“

Max Lucks (Bündnis 90/Die Grünen) erinnerte erneut an den Völkermord der Êzîden in Zahlen: Mehr als 5.000 Menschen seien getötet und mehr als 7.000 verschleppt und versklavt worden. „Einen Schmerz trage ich heute als deutscher Politiker in mir“, so Lucks, „wir stehen in der Schuld der Êzîdinnen und Êzîden, weil wir ehrlich einräumen müssen, dass wir nicht gehandelt haben.“ Deutschlands Schweigen habe Menschenleben gekostet, als die Êzîden im Jahr 2014 von dem IS eingekesselt wurden. Der Grünenabgeordnete richtete einige Worte an die Überlebenden des Genozids auf der Tribüne des Bundestages: „Ihr habt in einer Situation gekämpft, als Träume, eigene Lebensziele und der Glaube an die eigene Menschheit tot waren.“ Der Antrag zur Anerkennung des Völkermordes erhebe die Befriedung der Sindschar-Region zu einer Priorität deutscher Irakpolitik.

Union: Hilfe für Êzîden soll weiter verstärkt werden

Mit der Anerkennung des Völkermordes an den Êzîden werde in Deutschland ein neues Kapitel der Auseinandersetzung und Verarbeitung aufgeschlagen, sagte Michael Brand (CDU/CSU). „Wir gehen ganz bewusst die Verpflichtung ein, den Opfern dieses Genozids hilfreich zur Seite zu stehen, und das auf allen Ebenen und auf Dauer“, so der Unionspolitiker. Auf Deutschland komme mit der größten jesidischen Diaspora eine besondere Verantwortung zu. „Wir wollen die Hilfe für die Opfer weiter verstärken“, betonte Brand. Dies brauche einen gemeinsamen Einsatz. „Es ist wichtig, dass wir nicht allein mit Appellen, sondern mit konkreten Aktionen nach den noch immer rund 2.500 Opfern suchen, die wir in brutaler Sklavenhaltung befürchten müssen.“

FDP: „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“

„Es geht heute nicht um Parteipolitik, sondern es geht darum, einem geschundenen Volk zu helfen“, sagte Peter Heidt (FDP). Der Weg zur Gerechtigkeit sei mühsam, das zeige auch die deutsche Vergangenheit: „Die politische, historische und gesellschaftliche Aufarbeitung des nationalsozialistischen Genozids ist nicht oder, besser gesagt, niemals abgeschlossen“, so der FDP-Politiker. Mit der Aufarbeitung von Menschheitsverbrechen müsse Deutschland eine Vorreiterrolle einnehmen. In Anbetracht des Völkermordes an den Êzîden „wird klar, dass Deutschland sehr lange diesen Anspruch nicht erfüllt hat“. Zu lange habe man versäumt, das brutale Handeln des sogenannten Islamischen Staates beim Namen zu nennen: „Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“

AfD: „Völkermord an den Êzîden war kein Einzelfall“

Es sei höchste Zeit, dass der Bundestag den Völkermord an den Êzîden anerkenne, sagte auch Martin Sichert (AfD). Seine Fraktion stimme dem Antrag gerne zu. „Es darf dann aber nicht nur um schöne Worte gehen, sondern es müssen auch konkrete Taten folgen, um Êzîden zu schützen“, forderte Sichert. Der Völkermord 2014 sei außerdem kein Einzelfall gewesen, insgesamt gäbe es 74 Völkermorde an den Êzîden. Der AfD-Politiker kritisierte die Bundesregierung für eine inkonsequente Verfolgung der Täter. Wenn man Minderheiten wie die Êzîden schützen wolle, müsse man erkennen, dass die „Vorstellungen der Scharia“ nicht mit dem Grundgesetz vereinbar seien.

Linke: Deutsche Mitverantwortung muss benannt werden

„Heute ist ein historischer Tag“, begann Sevim Dagdelen für Die Linke. Auf die Anerkennung des Völkermordes an den Êzîdinnen habe die êzîdische Gemeinschaft, aber auch ihre Fraktion lange hingearbeitet. „Es ist höchste Zeit, den Êzîden Gerechtigkeit widerfahren zu lassen“, so die Linkenabgeordnete. Dagdelen kritisierte eine Unvollständigkeit in dem Antrag der Ampel-Koalition und der Union – die deutsche Mitverantwortung an der Unterstützung des IS sei ausgelassen worden. „Unsere damalige Bundesregierung lieferte Waffen an diese Verbündeten“, sagte Dagdelen. „Wer Interesse hat, die Êzîden zu schützen, der muss alles tun, um die Bombardierungen im Sindschar-Gebirge zu stoppen.“

Anmerkung der Redaktion

Der Beitrag wurde entsprechend der Eigenbezeichnug Êzîden angepasst. „Êzîdî“ kommt aus dem Kurdischen (Kurmandschi) und bedeutet „der, der mich erschaffen hat“, also der Schöpfer und Gott. Die Verwendung der Eigenbezeichnung ist als Form des Respekts gegenüber Êzîdinnen und Êzîden anzusehen. Die zuvor im Text verwendete Schreibweise „Jesiden“ gilt als Fremdbezeichnung.

Porträtfoto von Yasemin
Mitmischen-Autorin

Yasemin Kamisli

... studiert in Frankfurt am Main und setzt sich für die Sichtbarkeit von diversen Lebensrealitäten ein.

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