Zum Inhalt springen

PPP-Stipendium „Es war eines der besten Jahre meines Lebens“

Naomi Webster-Grundl

Ein Auslandsjahr kann das Leben für immer verändern. Man lernt ein anderes Land und eine andere Kultur kennen, schließt Freundschaften fürs Leben, verliebt sich, wandert aus. Die Familiengeschichte von Isabel, Dorothee und Evie ist stark vom Austauschprogramm des Bundestages geprägt worden.

Drei Frauen auf einem Selfie, im Hintergrund ein amerikanischer Vorgarten. Von links nach rechts eine ältere Frau mit kurzen grauen Haaren und blauer Brille, in der Mitte ein junges Mädchen mit langen braunen Haaren, rechts eine mittelalte Frau mit dunklem-gräulichen Haar.

Drei Generationen: Isabel, Evie und Dorothee (v.l.n.r.) im Jahr 2024, als Isabel ihre Tochter und ihre Enkelin in Michigan besucht. © privat

In ein Flugzeug steigen und ans andere Ende der Welt reisen. Das war in den 1960er-Jahren etwas sehr Ungewöhnliches. Isabel hatte damals das Glück, als Teil des weltberühmten Kinderchores „Obernkirchen Childrens Choir“ mehrmals auf große Welttournee zu gehen. Der Chor trat auch regelmäßig in den USA auf. „Die Amerikaner waren ganz begeistert von uns. Nach den Konzerten standen sie Schlange für ein Autogramm. Ob in der Carnegie Hall oder sogar im Weißen Haus, überall jubelten sie uns zu. Wir waren wie  Botschafter für ein neues Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Und umgekehrt übte dieses Land, die USA, eine so große Faszination auf mich aus, ich kann das gar nicht beschreiben. Ich wollte unbedingt mehr über das Land erfahren und die Menschen kennenlernen“, erzählt Isabel. Als sie 15 Jahre alt war, erfuhr sie von einem Austauschprogramm, mit dem man für ein Jahr in den USA leben konnte. Sie war gerade auf Tournee und schrieb ihren Eltern einen flehenden Brief, sie dafür anzumelden – denn bis sie selbst wieder zu Hause gewesen wäre, wären die Fristen verstrichen. Ihre Eltern erfüllten den Wunsch ihrer Tochter: 1971 zog Isabel für ein Jahr nach Bay City, Michigan, im Norden der USA. „Dass ich diesen Austausch machen konnte, war das größte Glück meines Lebens“, schwärmt sie heute noch – mehr als 50 Jahre später. Sie verstand sich sehr gut mit ihren Gasteltern und wurde auch in der High School mit offenen Armen empfangen. „Es war ein Sprung in ein neues Leben.“

Ein schwarz-weiß Bild von einer Schulklasse aus den 70er Jahren.

Schuljahr 1971/72 in Royal Oaks, Michigan: Isabel steht in der hinteren Reihe, mittig, die siebte Person von links. © privat

Nach dem High-School-Abschluss ging es zurück nach Deutschland, das Abitur stand an. Isabel blieb nach ihrem Abschluss in Deutschland, gründete hier eine Familie, doch das Auslandsjahr hatte sie und ihre Weltsicht sehr geprägt. „Mir war es immer wichtig, dass meine Kinder mit Weltoffenheit aufwachsen und einen Blick über den Tellerrand werfen“, erklärt Isabel. Neben ihr sitzt Dorothee, das älteste ihrer vier Kinder. Auch sie ist während ihrer Schulzeit für ein Jahr nach Michigan gezogen. Das war 1994 – inzwischen gab es das Parlamentarische Patenschafts-Programm (PPP) des Deutschen Bundestages in Zusammenarbeit mit dem US-Kongress. „Mein Austauschjahr war eines der besten Jahre meines Lebens“, stellt Dorothee lächelnd fest. Sie lebte bei einer herzlichen Gastfamilie mit drei jüngeren Geschwistern, fast genauso wie zu Hause in Deutschland. Sie schloss enge Freundschaften – und sie verliebte sich. Ihre Mutter Isabel erinnert sich schmunzelnd: „Dorothee hatte Feuer gefangen. Aber es war auch klar für sie, dass zuerst Abitur und Studium kommen. Ihre Liebe hat über all die Jahre gehalten.“ 

Ein leicht vergilbtes Familienfoto mit fünf Personen: einer jungen Frau am äußeren linken Rand, eine ältere Frau neben ihr mit einem kleinen Jungen auf ihrem Schoß. Neben ihr ein Mann mit einem weiteren Kind auf dem Schoß.

Austauschjahr 1994/95: Dorothee (links) hat Besuch von ihrer Mutter Isabel (mitte, hinten). Auf dem Foto, das Dorothees Gastmutter – ihre „Mom“ – aufgenommen hat, sind außerdem Dorothees Gastvater und zwei ihrer Gastgeschwister zu sehen. © privat

Im Jahr 2002 heiraten Dorothee und ihre High-School-Liebe John in Deutschland und sie zieht anschließend zu ihm nach Royal Oak, Michigan, in der Nähe von Detroit. „Ich bin zwar auf einen anderen Kontinent gezogen, aber ja keineswegs ins Ungewisse. Meine Gasteltern und ihre Kinder, John und seine Familie kannte ich ja zu dem Zeitpunkt schon alle mehrere Jahre“, so Dorothee. Und ihre Mutter erklärt: „Ich hatte das Gefühl, dass Dorothee dort in eine gute Familie eingebettet ist. Dadurch fiel es mir schon leichter, sie gehen zu lassen.“

Gruppenbild von vier Personen, drei Frauen und einem Mann, alle mittleren Alters.

Dorothee (links) lebt seit mehr als 20 Jahren auf einem anderen Kontinent als ihre Mutter Isabel (Zweite von rechts). Doch Isabel weiß, dass ihre Tochter auch in den USA ein familiäres Netzwerk hat. Hier sind sie im Jahr 2023 gemeinsam mit Dorothees Gasteltern aus dem Austauschjahr zu sehen. © privat

Wenn junge Leute mit dem PPP für ein Jahr in die USA gehen, werden sie auf die Rolle als Botschafter für ihr Land und ihre Kultur vorbereitet. Dorothee war damals ein wenig nervös, wollte perfekt vorbereitet sein, wenn die US-Amerikaner Fragen zu historischen Daten der deutschen Geschichte oder Ähnlichem haben sollten. „Stattdessen haben sie mich dann aber gefragt, ob wir in Deutschland Demokratie haben und wie wir unser Essen kühl halten“, erinnert sie sich. So absurd ihr das zunächst erschien, so konnte sie mit der Zeit doch begreifen, wie es sein kann, dass manche Leute in den USA noch nie von bestimmten Dingen in Europa gehört haben. „Die leben ganz abgeschieden in winzigen Ortschaften, es ist total ruhig und es spielt einfach keine Rolle, was irgendwo anders passiert.“

Auch Isabel hat mehr als zwanzig Jahre zuvor die gleiche Erfahrung gemacht. „Ich habe mich damals als Austauschschülerin schon wie eine Botschafterin gefühlt. Das einzige, was ein amerikanischer Durchschnittsschüler damals über Deutschland gehört hatte, war Hitler, aber dann haben sie mich auch gefragt, ob er noch lebt. Aber wenn man ländliche Gegenden in den USA kennenlernt, wo nichts ist, und gleichzeitig sieht, wie riesig das Land ist, wie weit die nächste Stadt weg sein kann, dann versteht man, wie es sein kann, dass sie nichts über die Welt da draußen wissen. Deswegen war es für viele Kinder in meiner amerikanischen Schule super wichtig, dass jemand wie ich da war, die ihnen was von der anderen Seite der Welt erzählen konnte.“

Isabel trifft sich auch heute noch mit ihren Freunden aus der High-School-Zeit, wenn sie zu Besuch in die USA kommt. Im Sommer 2024 ist sie für ein Klassentreffen in Michigan. „Mit den Freunden, mit denen ich damals in einer Clique war, ist die Freundschaft auch heute noch sehr intensiv. Wir freuen uns immer schon das ganze Jahr darauf, uns wiederzusehen“, erzählt sie begeistert. Auch heute fühlt sie sich noch wie eine Botschafterin. „Viele wollen genauer wissen, was politisch in Europa los ist: Wie ist das mit dem Krieg in der Ukraine? Wie fühlt ihr euch dabei? Da gibt es jede Menge Austausch, der ausgesprochen wichtig ist. Gerade weil die Amerikaner hier einen sehr viel begrenzteren Zugang zu den Nachrichten aus Europa haben.“

Sechs ältere Personen nebeneinander (vier Frauen und zwei Männer), sie liegen sich gegenseitig in den Armen.

Isabel (Dritte von rechts) reist regelmäßig in die USA – nicht nur, um ihre Tochter und die Enkelkinder zu besuchen, sondern auch um sich mit Freunden aus der High-School-Zeit zu treffen. Im Jahr 2022 feierten sie gemeinsam das 50-jährige Jubiläum ihres High-School-Abschlusses. © privat

Dorothee bekommt in ihrem alltäglichen Leben oft Fragen zu Geschehnissen in Europa gestellt: „Es gibt viele Leute, die mich fragen, weil sie etwas gehört haben, aber nichts Genaueres darüber wissen. Vieles wird in den amerikanischen Medien nicht ausführlich besprochen. Ich konsumiere deutsche Medien und Nachrichten, ich habe also mehr Infos zu vielen Dingen, die ich dann mit den Leuten hier teilen kann. Oder ich gebe meine eigene Einschätzung dazu ab oder erkläre die historischen Zusammenhänge. Also fühle ich mich eigentlich fast jeden Tag wie eine Botschafterin. Und es hilft, dass ich seit 20 Jahren in den USA lebe, weil ich beide Seiten verstehe und so versuche, diese zusammenzubringen, wenn ich kann.“

Isabel unterstreicht, wie wichtig der gegenseitige Austausch ist, wie essentiell es ist, dass Menschen sich ein eigenes Bild von der Welt machen und so Fake News und Vorurteilen ihre Erfahrungen mit realen Menschen entgegensetzen können. „Es darf niemals aufhören, dass wir miteinander sprechen. Dass Leute über die Welt hinweg miteinander verbunden sind, um zu verstehen, was in einem anderen Teil der Welt passiert, wie andere Menschen leben. So wie die politischen Entwicklungen gerade sind, ist es wichtiger denn je. Das gilt natürlich nicht nur für Deutschland und die USA.“

Drei Personen auf einem Selfie, im Vordergrund eine mitteilte Frau mit grauen haaren, hinter ihr eine ältere Frau mit Brille und im Hintergrund ein junges Mädchen mit braunen Haaren.

Dorothee, Isabel und Evie (v.l.n.r.) – sie sind eine Familie über Kontinente hinweg. © privat

Ganz im Sinne der Weltoffenheit und des Austausches zieht Dorothees Tochter Evie im Spätsommer 2024 für ein Jahr zu einer deutschen Gastfamilie in der Nähe von Bremen. Sie freut sich besonders darauf, auf deutsche Weihnachtsmärkte zu gehen und andere klischee-deutsche Sachen zu machen. Ihre Großmutter Isabel wird sie in der Zeit wahrscheinlich nicht sehen. Kontakt zur eigenen Familie soll man in der Austauschzeit nicht zu viel haben, um sich voll und ganz auf das Erleben einer anderen Kultur mit einer anderen Familie einlassen zu können. Dorothee ist ein bisschen aufgeregt: „Damals, als ich den Austausch gemacht habe, hat eine Minute Telefongespräch zwei Dollar gekostet und ein Brief drei Wochen gebraucht, bis er in Deutschland war. Mit der konstanten Kommunikation, die wir jetzt gewöhnt sind, bin ich gespannt, wie das für Evie und uns werden wird. Aber wir werden es herausfinden. Ich hoffe einfach, dass das Austauschjahr für Evie eine so tolle Erfahrung wird, wie es das für uns war.“

Mehr zum Thema