Jugendbegegnung Verbrannte Dörfer und Hunger als Waffe
Vor 80 Jahren überfiel Deutschland die Sowjetunion. Wer waren die Opfer der NS-Gewaltherrschaft? Und wie gedenken wir? Mit diesen Fragen beschäftigten sich 30 junge Erwachsene während der Jugendbegegnung des Bundestages.
Als Wolfgang Schäuble im Frühjahr 1961 Abitur macht, stehen die Verbrechen des NS-Regimes nicht auf seinem Stundenplan. „Ich habe in der Schule nichts von Auschwitz gehört“, sagt der Bundestagspräsident lebhaft gestikulierend und blickt in die Runde. Links und rechts an dem großen runden Tisch hören ihm zahlreiche junge Menschen gebannt zu. Sein Geschichtsunterricht, erinnert sich Schäuble, habe bei Bismarck aufgehört.
60 Jahre später ist das wohl undenkbar. Doch wie steht es um die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft? Was wissen wir in Deutschland über den Krieg gegen die sowjetische Bevölkerung – über verbrannte Dörfer, Massenerschießungen und die grausame Hungerpolitik der Nazis im Osten?
Jugend gedenkt der NS-Opfer in Osteuropa
Zu wenig, meinen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Jugendbegegnung, die diese Woche unter dem Thema „Nationalsozialistische Verbrechen und Besatzungsherrschaft im Zweiten Weltkrieg“ in Berlin stattfindet. In kleinerer Runde als üblich und vor allem bei deutlich höheren Temperaturen: Wegen Corona konnten sich die jungen Erwachsenen nicht, wie in früheren Jahren, um den Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar treffen.
Mit dabei sind 30 junge Erwachsene im Alter von 18 bis 24 Jahren, angereist aus ganz Deutschland. Von der Großstadt bis zum Dorf, von Schleswig-Holstein bis Bayern. Sie alle setzen sich für eine lebendige Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus ein. Sie machen wie Corinna (18) einen Freiwilligendienst in der Villa ten Hompe im westfälischen Münster, einem Geschichtsort, der die Rolle von Polizisten bei NS-Verbrechen in den Blick nimmt. Oder wie Emilia Taran (21), die in Mainz Sozialwissenschaften studiert und sich bei dem Projekt Meet a Jew des Zentralrats der Juden engagiert.
Vier Tage volles Programm
Als die Gruppe den Bundestagspräsidenten am Mittwoch mit ihren Fragen löchert, hat sie schon ein langes Programm hinter und noch einige Stationen vor sich: Im Laufe der viertägigen Veranstaltung besuchen sie Gedenkstätten, besichtigen das Deutsch-Russische Museum Berlin-Karlshorst und lernen das Reichstagsgebäude als Ort der Erinnerung kennen.
Los geht‘s am Montag im Reichstagsgebäude des Bundestages. Zugeschaltet via Bildschirm gibt Historiker Dieter Pohl (ein Interview mit ihm könnt ihr hier lesen) den Teilnehmern einen ersten Überblick über das breite Veranstaltungsthema.
Vernichtungskrieg mit Millionen Opfern
Aus Sicht des Experten ist der deutsch-sowjetische Krieg der zentrale Krieg des 20. Jahrhunderts. Fast auf den Tag genau vor 80 Jahren, am 22. Juni 1941, überfiel die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion, ein inzwischen zerfallener Staat, zu dem Russland gehörte. Das war der Beginn eines beispiellosen Vernichtungskriegs mit Millionen Toten.
Gedacht als Blitzkrieg wollte Hitler möglichst schnell möglichst viel Gebiet erobern, wie Pohl erklärt. Zum Plan habe dabei von vorherein auch gehört, bestimmte Gruppen der Bevölkerung und der Kriegsgefangenen zu töten. Man spricht deshalb von einem Vernichtungskrieg. Dem Historiker zufolge hatte das zum einen ideologische Gründe, zum anderen sollte die Sowjetunion dadurch schneller zusammenfallen. Mit den Ausführungen des Experten im Hinterkopf begeben sich die Teilnehmer in fünf Kleingruppen-Sitzungen und beschäftigen sich dort ausführlicher mit einigen Themen.
Inhaltlicher Fokus: Verhungern lassen und Ausbeutung, Zwangsarbeit, Terror gegen die Zivilbevölkerung, Massenerschießungen und Umgang mit Massengräbern sowie die Ermordung der politischen Eliten, heißen die fünf Arbeitsgruppen, in denen die Teilnehmer zusammenkommen. Den gesamten Dienstag über beschäftigen sich die AGs intensiv mit ihrem Thema, sie sprechen mit Experten, besuchen Gedenkstätten oder begeben sich auf Spurensuche durch Berlin.
NS-Gewaltherrschaft im Osten
Hitlers Hauptinteresse habe von Beginn an dem Osten gegolten, erklärt Ina Derboven (20), während sie die kleine Gruppe über das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen führt. Sein Ziel: Millionen „slawische Untermenschen“, wie Hitler die sowjetische Bevölkerung nannte, vernichten und „Lebensraum schaffen für das deutsche Volk“.
In den neun Jahren nach der Gründung 1936 waren im KZ Sachsenhausen mehr als 200.000 Menschen inhaftiert, die meisten von ihnen Männer, viele aus der Sowjetunion und Polen. Zehntausende starben, mindestens 13.000 sowjetische Kriegsgefangene ermordete die SS allein im Herbst 1941 in einer eigens dafür gebauten „Genickschussanlage“.
Ermordung der politischen Eliten
Als Johann, Corinna, Lea, Silke und Anton die Anlage betreten, fängt es über Berlin zu regnen an. Die fünf haben sich für die Arbeitsgruppe „Ermordung der politischen Eliten“ entschieden. Hier auf dem Gelände des KZ befassen sie sich mit Fragen wie: Welche perfiden Strategien wandten die Nazis an, um zum Beispiel den Widerstand der polnischen Zivilbevölkerung schon kurz nach Kriegsausbruch 1939 zu brechen? Und wie erging es sowjetischen Kriegsgefangenen?
Vergessene Massengräber und verbrannte Dörfer
Die zweite Gruppe widmet sich den schätzungsweise zwei Millionen Opfern von Massenerschießungen. Die meisten von ihnen waren Juden, Sinti und Roma. Ermordet von Mitgliedern der SS, von Einheiten der Ordnungspolizei und der Wehrmacht. Verscharrt in anonymen Massengräbern, an die heute zum Teil nicht einmal ein Gedenkstein erinnert. Wie kann man die Erinnerung lebendiger machen? Und wie sieht angemessenes Gedenken überhaupt aus?
Viele Massaker verübten die Besatzer zudem in Gebieten mit (angeblichen) Partisanen, also organisierten Widerständlern. Allein in Belarus brannten sie unter dem Vorwand der Partisanenbekämpfung mehr als 600 Ortschaften nieder. Mit den Geschichten dieser Opfergruppe, mit der Aufarbeitung ihrer Schicksale und der Frage nach ihrem Gedenken setzt sich eine dritte AG auseinander.
Hunger als Kriegswaffe
Ein zentraler Bestandteil von Hitlers Vernichtungskrieg im Osten war das systematische Aushungern der sowjetischen Bevölkerung. Ein besonders schlimmes Beispiel ist die Leningrader Blockade. Fast zweieinhalb Jahre schließt die Wehrmacht die Großstadt im Norden Russlands ein. Mehr als eine Millionen Menschen sterben eines grausamen Hungertods.
Die Leningrader Blockade gehört zu den massivsten Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg. Trotzdem gibt es in Berlin keinen Ort, der daran erinnert, kritisieren die Teilnehmer der AG. „Wir glauben, dass es 80 Jahre nach der Blockade endlich Zeit ist, einen würden Ort des Gedenkens für die Opfer zu schaffen“, sagt Justin. Der 19-jährige Australier, der als Freiwilliger in einer Gedenkstätte in Hamburg arbeitet, ist überzeugt: Die Schicksale der Menschen in Osteuropa werden zu wenig beachtet.
Gedenken an die Ausgehungerten
Wie sichtbar sind die Opfergruppen im Stadtbild? Und was ist ein angemessener Ort, um an die eine Million Tote von Leningrad zu erinnern? Mit diesen Fragen im Gepäck bricht die AG am Dienstag auf zu einer Exkursion durch Berlin, genauer gesagt zu verschiedenen Gedenkorten in der Hauptstadt.
Von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand läuft die Gruppe vorbei am Büro der Verteidigungsministerin über einen kleinen Steg auf die andere Seite des Landwehrkanals. Wo heute ein Wohnhaus steht, wurde einst die Blockade geplant. Womöglich ein guter Ort für das Gedenken an die Opfer? Eher nein, meinen die Jugendlichen und ziehen weiter.
Von der Fabrikarbeiterin bis zum Totengräber
Während die einen Gedenkorte in der Innenstadt erkunden, beschäftigen sich andere in einem ehemaligen NS-Zwangsarbeiterlager im Südosten Berlins mit den Schicksalen der vielen Menschen, die unter teilweise lebensbedrohlichen Bedingungen während des Zweiten Weltkriegs für die deutsche Wirtschaft arbeiten mussten. Schätzungen gehen von elf bis zwölf Millionen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern aus, zeitweise stellten sie die Mehrheit der Beschäftigten.
Zwangsarbeiterlager gab es im NS-Staat an jeder Ecke, zum Teil mitten in den Städten. Auch das Lager Berlin-Schöneweide, das die Gruppe an diesem trüben Dienstag besucht, lag inmitten eines Wohngebiets. Auf dem Gelände, in dem sich seit 2006 ein Dokumentationszentrum befindet, sucht die AG Antworten auf Fragen wie: Wer waren die Menschen, die etwa zur Arbeit in Rüstungsfabriken und als Dienstmädchen gezwungen wurden? Und wie sah ihr Alltag aus?
Es sind Schicksale wie das von Maria Kawecka (24), die von Polen nach Deutschland verschleppt wurde, um für die Rüstungsindustrie zu arbeiten, die der AG im Dokumentationszentrum begegnen. Oder von Nikolaj Galuschkow (15) aus Russland, der in Berlin tagein tagaus Gräber ausheben musste. Und so kreisen die Gedanken der Teilnehmer, als sie sich am Nachmittag in einer ehemaligen Unterkunftsbaracke zusammensetzen, immer wieder um eine Frage: Wie kann man den einzelnen Schicksalen gerecht werden und die gesamte Bandbreite der Lebensgeschichten sichtbar machen?
Austausch mit dem Bundestagspräsidenten
Mit all' diesen Eindrücken im Gepäck, mit ihren Gedanken und Fragen aus unzähligen Gesprächen in kleiner und großer Runde, mit Experten vor Ort und via Bildschirm, im Seminarraum und am Frühstückstisch reist die Gruppe am Mittwoch für die Podiumsdiskussion mit Wolfgang Schäuble zurück zum Ausgangspunkt ihrer gemeinsamen Reise: dem Deutschen Bundestag.
„Meine Erfahrung ist, dass die allermeisten kaum darüber geredet haben“, sagt Schäuble. Nicht über die Verbrechen der Wehrmacht. Und nicht über das, was ihnen selbst widerfahren ist. Umso wichtiger sei es, in vielfältiger Art und Weise junge Menschen an das Thema heranzuführen.
Für ihn gehe es dabei um nichts Geringeres, als um die Frage, was wir Menschen sind. Den jungen Erwachsenen gab der Bundestagspräsident mit auf den Weg: „Lernen Sie aus der Vergangenheit. Aber die wichtigste Lehre aus der Vergangenheit ist auch: Kümmern Sie sich um die Gegenwart und die Zukunft. Und das heißt: En-ga-gie-ren Sie sich.“
Anregungen von der Jugend
Mit am Tisch saß auch Prof. Dr. Raphael Gross, Präsident der Stiftung Deutsches Historisches Museum und zuständig für eine geplante Dokumentations-, Bildungs- und Erinnerungsstätte zur Geschichte und Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft.
Die Einrichtung, die auf Beschluss des Bundestages in Berlin entstehen soll, will vor allem jene Opfergruppen des NS-Regimes in den Fokus rücken, die bislang eher wenig beachtet werden. „Wir sind mitten drin am Planen“, sagt Gross. Ein guter Zeitpunkt für Anregungen von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Jugendbegegnung des Deutschen Bundestages.