Blog Tag 2 Ein Denkmal aus Papier
Marejke Tammen
Papier ist geduldig und vergisst nicht – dank der Arolsen Archives sind die Schicksale von rund 17,5 Millionen Menschen dokumentiert und bleiben damit für die Nachwelt erhalten. Die diesjährige Jugendbegegnung hat sich am zweiten Veranstaltungstag auf Nachforschung durch die Archive begeben.
Während ich diese ersten Zeilen schreibe, sitze ich müde im Reisebus nach Bad Arolsen. Der gestrige erste Tag der Jugendbegegnung war lang – nicht nur für mich. Das spektakuläre Farbspiel am Berliner Himmel verschlafen die meisten Jugendlichen. Verständlich, die Nacht von Sonntag auf Montag war kurz und bereits jetzt gibt es einiges zu verarbeiten. Als gegen acht Uhr die letzten purpurfarbenen Sprenkel zu einem satten Himmelblau werden, erwacht der Bus allmählich. Eine kleine Pause, frische Luft, Filterkaffee – und schon ist man bereit für einen Tag in Bad Arolsen.
Auf Spurensuche
Gerade einmal 16.000 Einwohner zählt die hessische Kleinstadt in der Nähe von Kassel. Und doch befindet sich hier großes: die Arolsen Archives. Als internationaler Suchdienst von den Alliierten nach dem zweiten Weltkrieg gegründet, ist es heute das weltweit größte Archiv für Dokumente aus dem Nationalsozialismus. „Wir haben 40 Millionen Akten über Holocaust-Opfer, KZ-Häftlinge, NS-Zwangsarbeiter und Überlebende“, berichtet der Leiter des Online-Archivs Giora Zwilling. „In den ersten Jahren haben wir vor allem Anfragen von Menschen bekommen, die Verwandte gesucht haben. Später suchten die Menschen auch nach Informationen über die Haftzeit, um Entschädigungszahlungen vom deutschen Staat zu erhalten.“
Doch auch heute noch interessieren sich viele Menschen für die Schicksale der Holocaust-Opfer. Jährlich bekommen Giora Zwilling und sein Team um die 20.000 Anfragen – größtenteils aus Deutschland, aber auch aus den USA, Frankreich, Polen, Israel und Russland.
Erfolgreiche Familienzusammenführung
Eine Frau, die eine Anfrage an das Archiv gestellt hat, ist heute sogar extra aus Thüringen ins Bürgerhaus von Bad Arolsen gekommen, um den Jugendlichen von ihrer Geschichte zu erzählen. Aufgrund der aktuellen politischen Lage möchte sie nicht namentlich genannt werden. Ich nenne sie hier daher Frederike.
Bis vor einigen Jahren kannte Frederike nur den Namen und den Geburtsort ihres Großvaters. Wie sein Leben aussah, wo er wohnte, was ihm passierte, wusste sie nicht. 2017 stellte sie daher eine Anfrage bei den Arolsen Archives. Nur kurze Zeit später erhielt sie eine E-Mail aus dem Archiv, angehängt waren 50 Dokumente. Daraus erfuhr Frederike, dass ihr Großvater die Lager in Auschwitz und Dachau überlebt hatte und anschließend nach Israel ausgewandert war. Mit Hilfe der Arolsen Archives suchte Frederike nach ihren Verwandten – und findet diese in den USA, Irland und Israel. Heute steht Frederike dank WhatsApp und Skype mit ihren neu dazugewonnen Familienmitgliedern in Kontakt. Nur ihren Großvater lernte sie nicht mehr kennen, dieser verstarb 2007 in Israel.
Viel Zeit, diese traurige und zugleich schöne Geschichte zu verarbeiten, bleibt den Jugendlichen nicht, denn es geht direkt weiter im Programm. Gemeinsam mit ihren jeweiligen Arbeitsgruppen erforschen sie nun selbst die Arolsen Archives. Ich schließe mich der AG 5 an, geleitet werden wir von Dr. Ulrike Huhn. Unsere erste Station heißt #StolenMemory.
Charlotte Miewes, Mitarbeiterin im Archiv, erklärt der Gruppe: „Bei der Ankunft in den Konzentrationslagern wurden den Personen ihre persönlichen Gegenstände abgenommen – egal, ob es sich dabei um Eheringe, Kinderfotos oder Familienerbstücke handelte“, sagt sie. „Einige dieser Gegenstände bewahren wir in unserem Archiv auf und versuchen die Angehörigen der ursprünglichen Besitzer aufzufinden, um ihnen ihre Gegenstände zurückzugeben.“
In eigener Sache
Während die Jugendlichen anschließend im Online-Archiv nach Dokumenten von der Holocaust-Überlebenden Eva Szepesi sowie dem eigenen Familiennamen recherchieren, laufe ich (ja, ich laufe – hier ist alles nur wenige Gehminuten voneinander entfernt!) rüber in die Ausstellungsräume des Archivs.
Auf dem Weg dorthin treffe ich eine Lokaljournalistin, die ebenfalls über den Besuch der Jugendlichen berichtet. Wir kommen ins Plaudern und sie gibt mir eine kleine Geschichtsstunde über Bad Arolsen. Plötzlich sagt sie etwas Überraschendes, was mich auch Stunden später noch beschäftigen wird. „Wir haben hier auch noch einen Fürsten, der im Residenzschloss Arolsen wohnt. Seine Patenonkel waren Himmler und Hitler.“ Auf meine erstaunte Nachfrage, ob diese Information der Bevölkerung bekannt sei, nickt sie. „Der Fürst wird hier trotz dessen akzeptiert.“ Ich bin verblüfft. Konnte das wirklich sein? Eine erste Recherche am Abend ergab: Es stimmt. Fürst Wittekind zu Waldeck und Pyrmont ist der Pate der zwei wohl größten Verbrecher der deutschen Geschichte.
Mit dieser erstaunlichen Information betrete ich also die Ausstellung des Archivs. AG 2 unter der Leitung von Rainer Hartmeier bestaunt gerade die unzähligen Archivschränke im Keller. Akten über Akten über Akten liegen hier. Ich ziehe eine aus dem Regal und lese den Namen Olga Fuchsova, geboren Klinger. Wer sich wohl hinter dem Namen verbirgt? Eine schnelle Suche auf dem Handy im Online-Archiv ergibt: 47 Suchergebnisse. Schade, so einfach ist das wohl doch nicht.
50 bis 100 Prozent
Gegen frühen Abend treffen sich alle Arbeitsgruppen noch einmal im Bad Arolsener Bürgerhaus zu einer Auswertung des heutigen Tages. Auf dem Boden liegen drei Zettel verteilt; 0 Prozent, 50 Prozent, 100 Prozent steht darauf.
Auf die Frage, wie gelungen der heutige Tag ist, verteilen sich die Jugendlichen im Raum und kommen doch alle wieder in der Mitte zusammen: sie alle fanden den Tag zu 50 Prozent gelungen. Der Programminhalt sei zwar interessant, doch die Taktung zwischen den einzelnen Programmpunkten sei zu eng gewesen. Unentschiedener sind sich die Jugendlichen bei der Frage, ob sie sich nach dem heutigen Tag in ihrem Engagement bestärkt fühlen. Die Antworten pendeln sich zwischen 50 und 100 Prozent ein. Gar keine so schlechte Quote.