Blog Tag 3 „Willkürlich entschieden, wer lebt und wer stirbt“
Auf den Spuren der Opfer besuchen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Jugendbewegung das Dokumentationszentrum „Topographie des Terrors“ und das „Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen“.
Prinz-Albrecht-Straße 8. Berüchtigt und gefürchtet war diese Adresse im Dritten Reich. Denn dort, wo wir uns an diesem kalten Januarmorgen eingefunden haben, stand früher die Zentrale der Geheimen Staatspolizei (Gestapo). Als eine Art Elitepolizei des NS-Regimes organisierte sie die Deportationen von Gefangenen, veranlasste Verhaftungen, verhörte und folterte politische Gegner.
Das Gebäude wurde nach dem Krieg abgerissen, die Straße in Niederkirchnerstraße umbenannt. Erst im Jahr 1987 wurde mit einer ersten Ausstellung an die Verbrechen erinnert, die einst auf dem Gelände geplant und durchgeführt wurden. Im Mai 2010 eröffnete dann das Dokumentationszentrum „Topographie des Terrors“. Dass dieser Ort so lange in Vergessenheit geraten war, sei exemplarisch für die fehlende Aufarbeitung der NS-Verbrechen in der Nachkriegszeit, berichtet Adam Schonfeld. Er ist Historiker und führt uns durch die Dauerausstellung: „Es handelt sich hier um einen Ort der Täter und keine Gedenkstätte“, erklärt er den Teilnehmenden. Aktenfotos von Gefangenen, Verhaftungsbefehle, Profile der Hauptverantwortlichen: Das Dokumentationszentrum stellt die Täter sowie ihr Handeln in den Fokus und offenbart dadurch die Brutalität und Skrupellosigkeit des Dritten Reichs.
Während die Gestapo nach ihrer Gründung Anfang der 1930er Jahre vor allem gegen politische Feinde wie Kommunisten vorging, hat sie laut Schonfeld mit der Zeit stetig ihre Definition für Staatsfeinde erweitert. Um eine Gruppe als „Feinde des Systems“ zu etablieren, hätten die Nationalsozialisten bevorzugt Minderheiten ausgewählt, gegen die bereits gewissen Vorurteile bestanden, sagt Schonfeld. Homosexualität sei beispielsweise bereits in der Kaiserzeit strafbar gewesen. Die Nazis bedienten sich diesem Fakt, verschärften das Gesetz. In der Ecke der „vergessenen Opfergruppen“ erinnert die Topographie neben den sogenannten „Asozialen“ und „Krankenmorden“ auch der Homosexuellenverfolgung.
Dass die Gestapo mit ihren rund 31.000 Mitarbeitern im Alleingang ein ganzes Land überwachen konnte, ist laut Schonfeld ein Mythos. Vielmehr sei sie auf Informationen aus der Bevölkerung angewiesen gewesen. So gerieten auch die meisten Homosexuellen in Haft, weil sie beispielsweise von Bekannten, Nachbarn oder Arbeitgebern denunziert worden. „Ob die Verhafteten wirklich schwul waren, spielte am Ende keine Rolle“, sagt Schonfeld. Vielmehr sei es der Gestapo darum gegangen, Erfolge vorweisen zu können. Waren die Menschen einmal im Haft, lag ihr Schicksal in den Händen der Gestapo, die außerhalb von Recht und Gesetz nach eigenem Ermessen foltern und verurteilen konnte: „Die Täter entschieden willkürlich, wer lebt und wer stirbt“, sagt Schonfeld.
Denkmal für die ermordeten Homosexuellen
Denen, die durch das System zum Tode verurteilt wurden, ist das „Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen“ am Rand des Berliner Tiergartens gewidmet. Gegenüber des Denkmals für die ermordeten Juden Europas und in unmittelbarer Nähe zum Brandenburger Tor steht eine große graue Stele. Ein kleines Fenster ist darin eingelassen. Die jungen Erwachsenen stellen sich in einer Reihe auf, um einen Blick in das Innere des Kubus werfen zu können. Auch ich werfe einen Blick hinein und schaue auf eine Videoleinwand, die eine Liebesszene zwischen zwei Frauen zeigt.
Dadurch, dass diese Szene im Inneren verborgen ist, solle die Lebensrealität vieler queerer Menschen gezeigt werden, erklärt ein Mitarbeiter der Denkmal-Stiftung: „Viele konnten sich nur im Verborgenen frei entfalten.“ Auch wenn die Teilnehmenden das Denkmal als sehr gelungen bezeichnen, kritisieren einige die fehlende Beschriftung oder Erklärung zum Denkmal. Nähere Informationen gibt erst eine Plakette, die sich einige Meter entfernt außerhalb des Tiergartens befindet. Zu versteckt, findet auch Kai (19), der gerade ein Freiwilliges Soziales Jahr Kultur bei der KZ-Gedenkstätte Dachau absolviert. Es brauche direkt am Denkmal eine historische Einordnung und Kontextualisierung. „Die Menschen verstehen ansonsten vielleicht gar nicht, worauf das Denkmal abzielt“, befürchtet er.
Während die einen auf dem kurzen Weg zurück ins Parlamentsviertel weiter angeregt über diesen Erinnerungsort diskutieren, sind die anderen gedanklich schon beim Mittagessen. Zurück am Paul-Löbe-Haus hat sich an der Sicherheitsschleuse eine kleine Schlange gebildet. Während wir warten, drehen sich plötzlich immer mehr Köpfe in Richtung des Ausgangs. Wirtschaftsminister Robert Habeck verlässt gerade begleitet von einem kleinen Fernsehteam das Gebäude. Den Jahreswirtschaftsbericht 2023 in der Hand, steht er dort, die Kamera macht ein 360°-Aufnahme von ihm, dann ist er auch schon weg. Während sich für uns diese Woche alles um das Thema Gedenken und Erinnern dreht, geht der Sitzungsbetrieb im Bundestag ganz normal weiter. Und so kommt es immer wieder vor, dass wir im Parlamentsviertel dem einen oder anderen bekannten Gesicht über den Weg laufen.
Zu wenig Fokus auf lesbische Frauen
Nach der kurzen Mittagspause, es ist mittlerweile früher Nachmittag, steht eine Diskussion mit Wissenschaftlern der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld zum Forschungsstand auf dem Feld der Homosexuellenverfolgung an. Es wird vor allem eines deutlich: Die Suche nach einem passenden Begriff für die Gruppe der aufgrund ihrer sexuellen Orientierung Verfolgten ist noch lange nicht abgeschlossen. „Queer“ wäre sprachlich aus der heutigen Zeit gedacht zwar der treffendere Begriff, sagt Daniel Baranowski, jedoch gab es diese Bezeichnung damals noch nicht. Deshalb habe man sich bei dem Titel des diesjährigen Schwerpunkts auf „Homosexuellenverfolgung“ verständigt, erklärt er den Teilnehmenden. Die haben viele kritische Anmerkungen und Nachfragen. Wieso es bei den homosexuellen Verfolgten immer nur um Männer gehe, möchte ein Teilnehmer wissen. Dies liege vor allem daran, dass das Strafrecht sich nur auf Männer beziehe. Es sei allerdings ein Trugschluss anzunehmen, dass lesbische Frauen im Nationalsozialismus nicht verfolgt wurden. Vielmehr gab es im Verständnis des NS-Regimes keine „sexuelle Selbstbestimmung“ von Frauen und daher auch keine Notwendigkeit, sie im Strafrecht zu erwähnen. Die fehlende Kategorisierung von lesbischen Frauen mache es heute schwieriger, ihre Schicksale aufzuspüren, sagt Baranowski. Eine Problematik, die uns sicher auch morgen beim Besuch der Gedenkstätte des Frauen-KZs Ravensbrück begegnen wird.
(Denise Schwarz)