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Blog Tag 5 „Auschwitz war eine Todesfabrik“

Carolin Hasse

Wie verarbeitet man so viel Grausamkeit, die an einem Ort wie dem Konzentrationslager Auschwitz, stattgefunden hat? Die Teilnehmenden der Jugendbegegnung widmeten sich Kunstwerken, die aus den Erfahrungen und Lebensgeschichten aus dem Lager heraus entstanden sind. Außerdem berichtete eine Zeitzeugin über ihre ersten Lebensjahre im Konzentrationslager.

Menschen stehen in einem Raum und sehen sich schwarz-weiße Zeichnungen an den Wänden an.

Die Werke von Marian Kołodziej sind eine künstlerische Verarbeitung seiner traumatischen Erlebnisse als Auschwitz-Häftling. © DBT/Stella von Saldern

Am heutigen Vormittag widmen wir uns der Kunst. Unser Ziel ist das Gerhard-Richter-Ausstellungshaus, das nur wenige Schritte von der Internationalen Jugendbegegnungsstätte entfernt liegt. Der blaue Doppeldecker-Bus bleibt also vorerst stehen, während wir uns auf einen kurzen Spaziergang begeben.

Gerhard Richter ist einer der bekanntesten lebenden Künstler Deutschlands und wurde 1932 in Dresden geboren. Seine Werke erzielen auf dem Kunstmarkt Rekordsummen. Doch werden seine Werke auch uns gefallen? 

Das Ausstellungshaus selbst ist weitläufig und lichtdurchflutet. Ein großes Fenster gibt den Blick auf den angrenzenden Garten frei, und die Strahlen der Morgensonne fallen direkt auf Richters Werke. Im Fokus der Schau stehen die vier Gemälde des Zyklus „Birkenau“. Dunkle Farbtöne dominieren die abstrakten Arbeiten: Schwarz und Rot, durchzogen von weißen und grünen Akzenten, prägen die großformatigen Bilder.

Zwei Menschen in Winterkleidung sind von hinten zu sehen, wie sie sich abstrakte Gemälde ansehen.

© DBT/Stella von Saldern

Die ersten Fotos der Nazi-Verbrechen

Jérôme Déodat, der uns durch die Ausstellung führt, erklärt: Richters Werke basieren auf Fotografien, die 1944 von dem jüdischen Häftling Alberto Errera im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau heimlich aufgenommen wurden. Die Bilder dokumentieren das Grauen: nackte Frauen auf dem Weg in den Tod und die Verbrennung von Leichen unter freiem Himmel. Errera, der mit den Aufnahmen sein eigenes Leben riskierte, schaffte es, die Negative der polnischen Köchin Helena Datoń zu geben. Sie schmuggelte die Bilder aus dem Lager. Die Fotografien sind die ersten Beweise der Massenvernichtung durch die Nazis und bis heute die einzigen fotografischen Beweise der Verbrennung von Leichen.

Richter, der die Fotografien erstmals in einer Zeitung sah, konnte die verstörenden Bilder nicht vergessen, erzählt uns Déodat. Dennoch entschied sich Richter, die Vorlage in seinen Werken zu verfremden: Er übermalte die Fotografien, trug Farbe auf, wischte sie ab und ließ die Originale nur schemenhaft durchscheinen. In der Ausstellung sind Kopien der Originalaufnahmen neben Richters Gemälden zu sehen.

Leute sitzen und stehen in einem hellen Raum, in dem große Gemälde und kleine schwarz-weiße Fotos an der Wand hängen.

© DBT/Stella von Saldern

Carlen und Benedikt, zwei Teilnehmende unserer Gruppe, sitzen lange auf einer Bank vor den Bildern. Als ich mich zu ihnen setzte, sagt Carlen: „Richters Werke nehmen hier den ganzen Raum ein, während die Fotografien, die Alberto Errera unter Lebensgefahr gemacht hat, klein und unauffällig in den Ecken hängen“. Benedikt ergänzt: „Richter hat die Originalbilder fast vollständig übermalt. Wie würden sich die Opfer fühlen, wenn sie das sehen könnten?“ 

Gedächtnisplatten und Labyrinthe im Kloster Harmęże 

Nach der Richter-Ausstellung führt uns der Weg zum Kloster Harmęże. Dort erwartet uns eine Ausstellung „Gedächtnisplatten.Labyrinthe“ des polnischen Künstlers Marian Kołodziej. Seine Werke sind eine künstlerische Verarbeitung seiner traumatischen Erlebnisse als Auschwitz-Häftling. 

Kołodziej, der 1940 mit dem ersten Gefangenentransport nach Auschwitz deportiert wurde, schwieg jahrzehntelang über seine Erfahrungen. Erst nach einem Schlaganfall begann er, diese in intensiven Zeichnungen zu verarbeiten.

Menschen gehen durch eine düstere Ausstellung.

© DBT/Stella von Saldern

Die gesamten Kellerräume des Klosters sind mit seinen Werken bedeckt. Auf den Wänden erscheinen endlose Reihen von Gesichtern mit leeren Augenhöhlen, Totenköpfen und ausgemergelten Körpern, gezeichnet in Schwarz-Weiß. Der Raum ist eng, die Decken niedrig – ein Gefühl der Beklemmung macht sich in mir breit, das Kołodziejs Erinnerungen greifbar macht. Eigentlich könnte man noch unglaublich viel über diese Ausstellung schreiben, gleichzeitig ist sie so unglaublich, dass man sie selbst sehen muss.

In einem Raum hängen an den Wänden und an der Decke düstere Zeichnungen.

© DBT/Stella von Saldern

Geboren in Auschwitz-Birkenau

Trotz der vielen Eindrücke geht es nach einer Mittagspause direkt weiter: Wir treffen Stefania Wernik, die im November 1944 im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau auf die Welt kam. „Ich bin in der Hölle geboren“, sagt sie, als sie ihre Geschichte erzählt.

Ihre Mutter, eine Polin, wurde schwanger deportiert. Dass die Schwangerschaft unbemerkt blieb, rettete wahrscheinlich Mutter und Kind das Leben – denn schwangere Frauen wurden meist direkt ins Gas geschickt. Doch der Start ins Leben im Lager war schwer: Wernik wog bei ihrer Geburt kaum zwei Kilogramm, ihre Mutter war so geschwächt, dass sie kein Glas Wasser halten konnte. Eine Mitinhaftierte übernahm die Pflege des Babys, verlangte dafür jedoch den Großteil der ohnehin knappen Essensrationen der Mutter. Wernik sagt: „Auschwitz war eine Todesfabrik“.

Eine ältere rothaarige Frau mit schicker grüner Jacke im Gespräch mit einer jüngeren dunkelhaarigen Frau, vor den beiden steht ein Mikrofon.

© DBT/Stella von Saldern

„Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus“ 

Obwohl sie selbst keine bewussten Erinnerungen an diese Zeit hat, hinterließen die traumatischen Erfahrungen ihrer Mutter tiefe Spuren. „Sie hat noch im hohen Alter nachts im Schlaf geschrien“, berichtet Wernik. Es seien Schreie gewesen wie: „Ich habe Hunger“ oder „Mengele holt mein Kind“. Trotz des erlebten Leids betont Wernik immer wieder, wie dankbar sie Gott jeden Tag für das Schöne im Leben sei. Besonders erfüllend sei für sie heute die Zeit mit ihren Enkelkindern. Für die Zukunft wünscht sie sich: „Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus.“

Patrycja, eine Teilnehmerin der Jugendbegegnung, die selbst aus Polen stammt, zeigt sich nach dem Gespräch tief beeindruckt. „Das Treffen hat noch einmal deutlich gemacht, dass in Auschwitz neben der jüdischen Bevölkerung auch unschuldige Polinnen und Polen inhaftiert wurden.“ 

Auch mich hat das Treffen mit der Zeitzeugin bewegt - und noch einmal daran erinnert, wie wichtig es ist, das Gedenken an die Opfer lebendig zu halten und ihre Geschichten weiterzuerzählen.

Wir lesen uns morgen!

Carolin

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