Arolsen Archives „Neben all dem Schrecken ist es auch ein Ort der Hoffnung“
Marejke Tammen
In der Zeit des Nationalsozialismus wurden Millionen Menschen verfolgt und ermordet. Zur Klärung ihrer Schicksale gründeten die Alliierten nach Ende des Zweiten Weltkrieges die Arolsen Archives – International Center on Nazi Persecution. Wir haben mit dem Leiter des Archivs, Giora Zwilling, gesprochen und ihn gefragt, warum seine Arbeit heute nach wie vor wichtig ist.
Die Arolsen Archives wurden 1948 als internationaler Suchdienst gegründet. Viele Menschen in Deutschland, Europa, den USA und Israel waren damals auf der Suche nach Freunden und Familienangehörigen. Denn die Nationalsozialisten hatten Millionen von Menschen verschleppt und ermordet. Vor allem Jüdinnen und Juden, aber auch Sinti und Roma, Regimekritiker und Zwangsarbeiter. Die Alliierten sammelten in den befreiten Zwangsarbeits- und Konzentrationslagern Dokumente, um Beweise der Verbrechen zu sichern. Diese Dokumente bewahren wir in unserem Archiv auf. Meine Aufgabe ist es, die Schriftstücke zu konservieren, sie in einen Kontext einzubetten und schließlich zu digitalisieren. Wenn man also zum Beispiel nach einem Namen sucht, muss man uns nicht mehr in Bad Arolsen besuchen kommen, sondern kann sich die Dokumente in den meisten Fällen in unserem Online-Archiv angucken.
Es gibt einige große und wichtige Archive, die sich mit der Zeit des Nationalsozialismus befassen. Aber diese Archive spezialisieren sich auf Teilaspekte. Das Holocaust Memorial Museum in den USA, aber auch die internationale Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem in Israel befassen sich hauptsächlich mit dem Schicksal von Jüdinnen und Juden. Und die Museen in den ehemaligen Konzentrationslagern wie Auschwitz-Birkenau oder Bergen-Belsen konzentrieren sich vor allem auf Menschen, die in diesen Lagern inhaftiert waren.
Die Arolsen Archives sind der einzige Ort, an dem die Dokumente aller Opfergruppen gesammelt werden. Es ist das größte Archiv über die Opfer und Überlebenden des Nationalsozialismus. Seit 2013 gehört die Sammlung zum UNESCO Weltdokumentenerbe.
Aber auch der Ort des Archivs, Bad Arolsen, ist besonders. Die Kleinstadt in Hessen liegt genau in der geografischen Mitte der ehemaligen vier Besatzungszonen in Deutschland.
In den Konzentrationslagern Neuengamme und Dachau fanden die Alliierten Umschläge mit Gegenständen, wie zum Beispiel Uhren, Brieftaschen oder Füller. Die SS hatte sie den Häftlingen abgenommen. Bis heute suchen wir international zusammen mit Freiwilligen nach Angehörigen der ursprünglichen Besitzer, um ihnen die Gegenstände zurückzugeben. Denn sie gehören nicht dem Archiv, sondern den Familien.
Aber der Großteil der Sammlung besteht aus historischen Dokumenten – mittlerweile mehr als 30 Millionen. Es sind Unterlagen aus NS-Haftanstalten, Ghettos und Zwangslagern. Darunter befinden sich Dokumente zu einzelnen Menschen, aber auch sehr viele Listen, zum Beispiel Transportlisten aus den KZ. Ein weiterer Teil der Dokumente stammt aus der frühen Nachkriegszeit mit Informationen zu Holocaust-Überlebenden, ehemaligen KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern. Sie geben zum Beispiel Auskunft über Emigrationswege, denn viele konnten oder wollten nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren.
In unserem Archiv haben wir Dokumente zu 17,5 Millionen unterschiedlichen Menschen. Es ist daher schwer eine Geschichte hervorzuheben. Mich bewegt vor allem die Masse an Geschichten, die diese Dokumente erzählen.
Aber ich kann als ein Beispiel die Geschichte von Rudolf Brazda erzählen. Die Nazis verfolgten ihn, weil er homosexuell war. 1941 wurde Rudolf Brazda verhaftet und später ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Er hatte Glück: Als gelernter Dachdecker wurde er nicht zur brutalen Zwangsarbeit in Steinbrüche oder Munitionsfabriken abkommandiert, sondern im Lager in einem Handwerkerkommando eingesetzt. Deshalb überlebte er. Später hat er offen über die Demütigungen in der NS-Zeit berichtet und kam mit 96 Jahren zu uns nach Bad Arolsen, um sich die Dokumente seiner Verfolgung anzusehen.
Nach dem Krieg war das Archiv hauptsächlich eine Anlaufstelle für Menschen, die ihre Verwandten und Freunde suchten. Für viele Opfer waren die Dokumente aber auch als Nachweis wichtig, um Entschädigungszahlungen vom deutschen Staat einfordern zu können. Heute kommen uns viele Forscherinnen und Forscher besuchen, aber auch viele junge Menschen, die zum Beispiel die Spuren ihrer Großeltern suchen. Dabei wollen wir helfen und ihnen ihre Geschichte zurückgeben. Unsere Arbeit ist bis heute vor allem von persönlicher Relevanz.
Trotzdem glaube ich, dass es insgesamt für junge Menschen wichtig ist zu sehen, wozu menschenverachtende Handlungen führen können. Das machen wir mit Projekten wie #everynamecounts, bei denen Zehntausende von Jugendlichen dabei helfen, die Dokumente aus unserem Archiv durch Crowdsourcing zu digitalisieren. Dabei setzen sie sich mit vielen Schicksalen auseinander. Ich möchte den Menschen ein Verständnis für diese dunkle Zeit vermitteln und ihnen raten, vorsichtig und wachsam zu sein. Viele Situationen sehen oftmals harmlos aus, können aber schrecklich enden. Aber ich möchte den Menschen auch Hoffnung geben. Es gibt ein Zurückkommen und nichts ist für immer. Die Arolsen Archives sind also beides: ein Ort, der Schreckliches dokumentiert, aber auch Hoffnung spendet.
#everynamecounts
Durch die Crowdsourcing-Initiative der Arolsen Archives soll den Namen und Identitäten der Opfer des Nationalsozialismus ein digitales Denkmal errichtet werden.
Auch du kannst bei der Bearbeitung und Digitalisierung von Dokumenten mitwirken und so die Vergangenheit für kommende Generationen greifbar machen. Hier kannst du, ohne Registrierung, auf die Archivdokumente zugreifen und zum Erhalt von Geschichte beitragen.