Blog Tag 1 Holocaust – lang ist’s her. Oder?
Marejke Tammen
79 Jahre, das ist ein ganzes Menschenleben, das seit dem Ende des Holocaust vergangenen ist. Doch reicht diese Zeitspanne aus, die Traumata zu verarbeiten und die Vergangenheit ruhen zu lassen? Sollte man die Vergangenheit überhaupt ruhen lassen? Mit nicht weniger großen Fragen beschäftigten sich die Teilnehmenden am ersten Tag der diesjährigen Jugendbegegnung.
Normalerweise ist die Halle des Paul-Löbe-Hauses an Sonntagen leer. Doch nicht so am 28. Januar. Die 65 Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Jugendbegegnung kennen sich noch nicht, doch das lässt der laute Geräuschpegel nicht erahnen. Es wird wild durcheinander geredet; Aufregung liegt in der Luft. Erst als der Leiter der Jugendbegegnung zum Mikrofon greift, um die Jugendlichen zu begrüßen, wird es still im Raum. „Das Motto der Jugendbegegnung ist meist an das Thema der Gedenkstunde im Bundestag angelehnt. Dieses Jahr lautet es: „Die Weitergabe von Erinnerungen an die nationalsozialistische Verfolgung in Familie und Gesellschaft“, erklärt Heiko Eberle und stellt in den nächsten Minuten das Programm der kommenden Tage vor. Zum Schluss bittet er die Jugendlichen noch: „Tauschen Sie sich aus. Nutzen Sie die Gelegenheit, führen Sie Gespräche, widmen Sie sich dem Thema.“
Anders sein – jüdisch sein
Anschließend lernen die Jugendlichen ihre jeweilige Arbeitsgruppe für die nächsten Tage kennen und erhalten eine Einführung in die Thematik. Der Schwerpunkt in diesem Jahr liegt auf der Frage, inwiefern Traumata, ausgelöst durch Erlebnisse in der NS-Zeit, an nachfolgende Generationen übertragen werden können. Leroy Schwarz kennt sich damit aus. Als Enkel der Holocaust-Überlebenden Eva Szepesi spielt die Geschichte seiner jüdischen Großmutter eine wichtige Rolle in seinem Leben. Schon als 15-Jähriger befasste er sich intensiv mit seiner Familiengeschichte und drehte den Film „Drei Frauen, drei Generationen – anders sein, jüdisch sein“. Protagonistinnen: Großmutter Eva, Tochter Anita, Enkelin Celina.
Anita sagt im Film, sie habe sich nie getraut nach der Nummer auf Evas Unterarm zu fragen. A26877 – das war die Häftlingsnummer, die Eva 1944 von den Nationalsozialisten tätowiert bekommen hat. Ihre Mutter habe viele Jahre nicht über das Erlebte reden wollen. „Ich spürte nur immer die Traurigkeit, die Schwere“, erinnert sich Anita. Sie habe zwar gewusst, dass ihre Mutter in Auschwitz gewesen sei, doch genaueres blieb ungewiss. Und dennoch schnürte sich Anita schon als Kind der Hals zu, wenn die Klassenkameraden sie anfeuerten und riefen: „Los, gib Gas!“
Während Anita sich nicht traute, ihre Mutter auf die Tätowierung anzusprechen, fragte Celina ihre Großmutter geradeheraus: „Wieso hast du diese Nummer?“ Evas Antwort lautete immer: „Das waren böse Menschen, die nichts Gutes wollten.“ Anita glaubt, dass es der nächsten Generation einfacher fällt, danach zu fragen. Sie selbst, in zweiter Generation, hat das Trauma ihrer Mutter Jahre später selbst erlebt. „Ich bekam Panikattacken und konnte kein Auto mehr fahren“, erinnert sie sich. Erst mit Hilfe einer Therapie konnte sie den Holocaust ihrer eigenen Familie aufarbeiten.
Einsam und gemeinsam
Die Jugendlichen hat Leroys Film beeindruckt. Dina findet es interessant, dass jede Generation andere Ansätze hat. „Was es bedeutet, jüdisch zu sein, anders zu sein, sieht jede Generation anders.“ Emma stimmt ihr zu und ergänzt: „Leroy hat erzählt, dass er sich als Jude manchmal einsam fühlt, aber zugleich Teil der jüdischen Gemeinschaft ist. Diese Gleichzeitigkeit bringt mich zum Nachdenken.“
Im Gespräch mit den Jugendlichen berichtet Leroy von antisemitischen Erfahrungen in seinem Alltag. Da ist zum Beispiel die Szene in einem Hostel während seines letzten Urlaubs. Die Duschen dort waren sehr chlorreich, was eine deutsche Hostel-Bewohnerin so kommentierte: „Ich fühle mich wie ein Jude.“ Für Leroy sind solche Momente nur schwer aushaltbar: „Der Holocaust ist noch nicht lange her!“
Hochaktueller Antisemitismus
Diese letzte Aussage finde ich spannend, denn oftmals höre ich eher das Gegenteil – insbesondere dann, wenn es um die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit geht. Klar, 79 Jahre ist eine lange Zeit. Und doch ist das Thema Antisemitismus heute aktueller denn je. Nicht erst seit dem Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023 werden jüdische und israelische Einrichtungen von der Polizei verstärkt geschützt. Auch in den sozialen Medien zählt die Polizei vermehrt Hassbotschaften und antisemitische Äußerungen. Auch Mahnmale und Stolpersteine werden immer häufiger beschmiert. Und all das zeigt doch: Der Holocaust ist zwar schon einige Jahrzehnte her, doch ein Ende des Antisemitismus scheint noch lange nicht in Sicht.
Hier noch ein paar weitere Eindrücke des Tages: