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Obdachlosenzeitung Mal lieb, mal konfrontativ, immer bunt

Seit 2018 verkaufen obdachlose Menschen auf den Straßen Berlins die Zeitung „Karuna Kompass“. Jeden Monat arbeiten ehemalige Straßenkinder gemeinsam mit Profis an einer neuen Ausgabe. Irina hat zwei von ihnen getroffen.

Portraitfoto

Die 24-jährige Nicky ist Teil der Berliner Straßenzeitung "Karuna Kompass". Heute hilft sie obdachlosen jungen Menschen als Lotsin.©privat

Vier Worte prangen in fetten Großbuchstaben auf dem mehrere Seiten dicken Heft, das Nicky in den Händen hält: SPAR DIR DEIN MITLEID. Eine Art Infoblatt, das aussieht wie eine Tageszeitung – entworfen von Jugendlichen in einem Projekt der Sozialgenossenschaft Karuna, die sich für junge Menschen in Not stark macht. Mit einem Kuli kritzelt Nicky „1 Euro“ auf die Titelseite, stellt sich auf die Straßen Berlins und beginnt, das Blatt an Passanten zu verkaufen.

Eine Straßenzeitung entsteht

So oder so ähnlich muss es gewesen sein, sagt die 24-Jährige, die 2015 über die Hilfeeinrichtung Drugstop zu Karuna kam. Viele Hefte wird die junge Frau zwar nicht los an diesem Tag vor vier Jahren. Aber die Idee einer Straßenzeitung ist geboren.

Als dann im Sommer 2018 die Berliner Zeitung Strassenfeger vorübergehend eingestellt wird und den obdachlosen Verkäuferinnen und Verkäufern ihre Einnahmen wegbrechen, drängt Nicky darauf, mit Karuna die Lücke zu füllen. Quasi über Nacht entsteht so eine neue Straßenzeitung: der Karuna Kompass.

Die Karuna-Redaktion besteht aus ehemaligen Straßenkindern, Journalisten und der Kommunikationsagentur Independent Connectors, bei der Nina Raftopoulo Geschäftsführerin ist. Sie steht den Jugendlichen als Kreativdirektorin beim Kompass zur Seite. Gemeinsam arbeiten sie jeden Monat an einer neuen Ausgabe, um den Schwächsten eine Stimme zu geben. Der Erlös von 1,50 Euro pro Zeitung geht an die Menschen, die das Blatt verkaufen.

Straßenzeitungen gibt es in Deutschland seit den neunziger Jahren. Sie sollen Menschen, die von Armut betroffen sind, eine Perspektive geben. Häufig werden die lokalen Zeitungen von wohnungslosen Menschen verkauft – in Straßenbahnen, am Hauptbahnhof oder an anderen belebten Orten. Das bringt Struktur in den Alltag der Verkäuferinnen und Verkäufer und ermöglicht ihnen ein kleines Einkommen. Außer dem „Karuna Kompass“ gibt es in Berlin drei weitere Straßenzeitungen: „motz“, „Streem“ und seit kurzem das „Strassenfeger MAG“, eine Neuauflage des „Strassenfeger“.

Fördern, fordern und beschützen

Im Mittelpunkt von Karuna stehen junge Menschen, die es nicht so leicht haben im Leben. Kinder und Jugendliche, die von Armut betroffen sind oder auf der Straße leben. Ihnen will die Organisation Schutz und Geborgenheit geben. „Viele Leute sagen, in Deutschland gibt es keine Straßenkinder“, sagt Nina Raftopoulo, die seit 2018 in der Genossenschaft arbeitet. Aber das sei ein Trugschluss und die Dunkelziffer sei hoch. Denn gerade junge obdachlose Menschen erschienen häufig nicht in der Statistik, etwa weil sie offiziell zwar bei den Eltern wohnten – tatsächlich aber schon seit Monaten nicht mehr dort aufgetaucht seien.

Außer jenen, die auf der Straße leben, gebe es viele, die sich von Couch zu Couch durchschlügen. „Die sind nicht wirklich sichtbar“, sagt Nicky. „Einen offiziellen Wohnsitz gibt es vielleicht – aber ein Zuhause? Was bedeutet das Wort Obdach überhaupt? Das ist so ungreifbar.“ Die Corona-Pandemie habe die Situation noch verschlimmert, sagt Kreaktivdirektorin Nina Raftopoulo. Während des Lockdowns hielten es viele nicht mehr Zuhause aus. Sätze wie „In Deutschland muss niemand auf der Straße leben“ oder „Geh doch einfach nach Hause“ machen die beiden daher wütend. „Niemand will obdachlos sein“, sagt Raftopoulo.

Durch Projekte wie das Hilfsprogramm Youth Force, das die Genossenschaft gemeinsam mit der Kinderrechtsorganisation Save the Children im vergangenen Jahr gestartet hat, erfahren junge Menschen zum Beispiel von Karuna. Zusammen mit Sozialpädagoginnen und Traumaexpertinnen ziehen ehemalige Straßenkinder los, um obdachlosen Jugendlichen zu helfen. Sie knüpfen Kontakte, verteilen Hilfekits für den Schutz vor Corona und helfen bei der Suche nach einem sicheren Schlafplatz.

Bei Karuna können die Jugendlichen gemeinsam mit Profis Mode entwerfen, in der Zeitungsredaktion mitarbeiten oder als Obdachlosen-Lotsen anderen Straßenkindern helfen. Das schaffe Tagesstruktur und gebe Selbstbewusstsein, sagt Nina Raftopoulo. „Wir wollen den Kindern und Jugendlichen zeigen: Wir glauben an dich, weil du etwas Besonderes leistest.“ Fördern, fordern und dabei gleichzeitig einander beschützen, das gebe es in unserer Leistungsgesellschaft in einem „klassischen“ Job eher selten.

Ein Stück Zuhause

Für Nicky ist Karuna „ein Stück weit Zuhause“. Ein Ort, an dem sie sich angenommen und wertgeschätzt fühlt. Als die 24-Jährige im „Karuna-Universum“ strandet, ist sie in einer schwierigen Lebensphase. Was genau damals los ist, will sie lieber nicht in diesem Artikel lesen. Mit der Arbeit im Karuna-Modelabel People Berlin macht die junge Frau zum ersten Mal die Erfahrung: „Ich kann was.“

Auch an die erste Redaktionskonferenz kann sich Nicky noch gut erinnern. „Wir hatten ein totales Chaos“, erzählt sie. „Am Tisch saßen die unterschiedlichsten Menschen“, ergänzt Kreativdirektorin Nina Raftopoulo. Jugendliche neben Erwachsenen, Straßenkinder neben professionellen Journalisten und Designern. „Diversität ist toll. Aber es war auch wahnsinnig anstrengend.“ Denn jeder hatte eine eigene Vorstellung: Da gab es die einen, die der Zeitung eine Struktur geben wollten. Ein festes Thema, ein festes Design. „Und die anderen, die fragten: Warum nicht jede Ausgabe komplett anders machen?“

Mal lieb, mal konfrontativ

Was entstand war „wahnsinnig bunt und wirr“, erinnert sich Nina Raftopoulo. „Aber auch total schön.“ Seitdem gleiche keine Ausgabe der nächsten. „Mal ist die Zeitung lieb, mal direkt und konfrontativ“, erklärt Nicky. „Alles bekommt einen Raum, alles darf sein.“ Die Geschichte des Studenten ebenso wie die des Ex-Nazis. „Das ist eine wahnsinnig schöne Freiheit, die wir haben“, sagt Raftopoulo. Normalerweise haben Zeitungen nämlich eine feste Struktur, zum Beispiel mit Rubriken, die in jeder Ausgabe gleich bleiben. Beim Kompass ist das anders. Einzig sein Leitsatz verändert sich nie: „Zeitung aus einer solidarischen Zukunft.“

Seit rund einem Jahr kommt die Redaktion wegen der Corona-Pandemie nur digital zusammen. Langfristig aber soll sie ins Karuna-Hauptquartier im Berliner Ortsteil Kreuzberg ziehen. Genauer gesagt in das alte Umspannwerk, einem roten Backsteingebäude mit hohen Decken und großen Fenstern. „Hier lebt das Chaos“, sagt Nicky. Es sei laut und bunt – und ein Ort, an dem „super viele Projekte entstehen.“ Vom Kiosk für bedürftige Menschen über das soziale Gartenprojekt Lieberose bis hin zur ersten Buslinie für Obdachlose.

Frau liest Zeitschrift

Es geht auch anders, das zeigt jede Ausgabe des "Karuna Kompass". So kann jeder Teilnehmer seine Ideen einbringen.©privat

Ein Weg mit Höhen und Tiefen

Nicky arbeitet mittlerweile im Rahmen des Modellprojekts Solidarisches Grundeinkommen als Obdachlosen-Lotsin. „Karuna Task Force“ nennt sich das Projekt, das vom Land Berlin durch die Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales gefördert wird. Sie sagt: „Es ist toll, wie man sich hier entwickeln kann.“ Auch, wenn der Weg nicht immer einfach war. Denn bis heute plagen die 24-Jährige manchmal Selbstzweifel. Dann frage sie sich: „Habe ich das alles überhaupt verdient?“

Als Obdachlosen-Lotsin kann Nicky mit ihrer eigenen Erfahrung anderen Kindern und Jugendlichen auf der Straße helfen. „Ich möchte ihnen zeigen: Ich gehe mit euch da durch.“ Zuhören, auch wenn die Geschichten noch so schwer sind. Und vor allem auf Augenhöhe begegnen.

Ohne Hilfe von Erwachsenen

Dieses Miteinander auf Augenhöhe prägt auch die Karuna-Redaktion. Für die Arbeit an der Zeitung bräuchten nämlich beide Seiten einander gleichermaßen, diese Erfahrung hat Nina Raftopoulo gemacht. Die Jugendlichen die Erwachsenen ebenso sehr wie umgekehrt, die Erwachsenen die Jugendlichen. „Und im Austausch entsteht etwas ganz Tolles.“

Mittlerweile gibt es den Kompass auch online und als solidarisches Jahresabo zu kaufen. Dadurch erhalte die Redaktion zum ersten Mal Einnahmen, von denen sie zum Beispiel Photoshop-Lizenzen kaufen und Workshops organisieren könne. Ziel sei es, die Kinder und Jugendlichen immer stärker in den Prozess einzubinden. „Langfristig“, sagt Nina Raftopoulo, „soll die Zeitung ganz ohne die Hilfe der Erwachsenen laufen.“ Mitte März ist der neue Kompass erschienen. Es ist eine dieser „lieben“ Ausgaben, wie die Kreativdirektorin verrät. Im Mittelpunkt steht das Thema Garten.

Der Verein „Karuna – Zukunft für Kinder und Jugendliche in Not“ entstand vor rund 30 Jahren in Berlin. Er kümmert sich um junge Menschen, die von Armut bedroht sind oder auf der Straße leben. 2016 gründete Jörg Richert die Sozialgenossenschaft Karuna, die sich selbst als „gesellschaftliches Entwicklungslabor“ bezeichnet und gemeinsam mit Jugendlichen, Obdachlosen und der Zivilgesellschaft verschiedenste Projekte umsetzt. Das Wort Karuna ist ein zentraler Begriff aus dem Buddhismus und bedeutet so viel wie aktives Mitgefühl.

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