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Abgeordneten-Interview „Gut, dass es euch gibt"

Laura Heyer

Ohne die Vereinten Nationen gäbe es mehr Armut und mehr Konflikte auf der Welt – da ist sich Christoph Matschie sicher. Was er der UN auf eine Karte zum 75. Geburtstag schreiben würde, verrät der SPD-Politiker im Interview.

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Mehr Kinder und Jugendliche haben Zugang zu Bildung, weil es die Vereinten Nationen (UN) gibt, sagt Christoph Matschie (SPD).©SPD Jena/Sebastian Bentzin

Herr Matschie, die Vereinten Nationen feiern dieses Jahr Geburtstag. Wenn Sie eine Glückwunschkarte schreiben sollten – was würde dort drinstehen?

Ich würde schreiben: Wie gut, dass es euch gibt! Ich wünsche euch Kraft und ein langes Leben!

Für menschliche Verhältnisse leben die Vereinten Nationen (englisch United Nations, kurz UN, auch UNO von United Nations Organization) schon recht lange – immerhin 75 Jahre. Welche Bilanz ziehen Sie?

Ich glaube, dass wir ohne die Vereinten Nationen eine Welt mit mehr Konflikten hätten und es uns an gemeinsamen Zielen fehlen würde, zum Beispiel beim Thema Klimawandel. Ohne eine Verständigung auf ein gemeinsames Abkommen wäre es unmöglich, solche großen Ziele zu erreichen. Oder nehmen sie die allgemeine Erklärung der Menschenrechte, in der sich unterschiedliche Staaten mit unterschiedlichen politischen Systemen auf gemeinsame Werte verständigt haben.

Darüber hinaus ist die UNO ein wichtiges Gremium, um Konflikte zu schlichten. Ihre Programme wie das Welternährungsprogramm (WFP), die Entwicklungsorganisationen oder der Hochkommissar für Flüchtlinge haben dazu beigetragen, dass die Welt sich besser entwickelt hat. Es gibt heute weniger Menschen in absoluter Armut, mehr Kinder und Jugendliche haben Zugang zu Bildung. Und an vielen dieser positiven Entwicklungen haben die Vereinten Nationen mitgewirkt.

Die UNO hat 193 Mitglieder mit unzähligen Sprachen, Geschichten und teilweise auch sehr unterschiedlichen Wertvorstellungen. Wie kann da eine Zusammenarbeit funktionieren?

Die Zusammenarbeit funktioniert trotz dieser Unterschiedlichkeit gut, etwa, wenn man die gemeinsamen Entwicklungsziele anschaut. Bei den sogenannten Sustainable Development Goals hat sich die Weltgemeinschaft auf 17 Ziele für die kommenden Jahre bis 2030 verständigt, die alle teilen. Oder nehmen wir den gemeinsamen Migrationspakt. Auch wenn nicht immer alle Staaten dabei sind, herrscht doch am Ende meist große Einigkeit. Das hat damit zu tun, dass die Welt vor Problemen steht, an deren Lösung alle ein Interesse haben.

Die UNO kann nicht direkt handeln, sondern veröffentlicht sogenannte Resolutionen, in denen Forderungen formuliert werden. Zudem haben die fünf ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat ein Vetorecht bei Abstimmungen. Ist die UN ein zahnloser Tiger?

Das sehe ich nicht so. Neben den Resolutionen kann die UNO auch sehr direkt reagieren. Vor kurzem hat das Welternährungsprogramm den Friedensnobelpreis bekommen. Über dieses Programm wurden letztes Jahr rund 100 Millionen Menschen auf der Erde mit Nahrungsmitteln versorgt. Oder nehmen Sie die Weltgesundheitsorganisation WHO, die in den letzten Monaten während der Corona-Pandemie eine wichtige Rolle gespielt hat, zum Beispiel bei der Koordinierung der Impfstoffentwicklung. Und wenn der Sicherheitsrat sich verständigt, können die Vereinten Nationen sogar Friedenstruppen in ein Land schicken, so wie zum Beispiel in der Sahelregion in Mali.

Deutschland ist der viertgrößte Beitragszahler der UN und setzt sich mit Nachdruck für eine Reform ein. Was muss sich ändern?

Ein wichtiger Ansatzpunkt für eine Reform ist der Sicherheitsrat. Er spiegelt immer noch die Verhältnisse nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wider, als sich die UNO gegründet hat. Dort sitzen China, die USA, Russland, Großbritannien und Frankreich als ständige Mitglieder. Einflussreiche Staaten wie Indien, Japan, Brasilien oder auch Deutschland sollten in Zukunft einen ständigen Sitz bekommen.

Darüber hinaus muss die Frage des Veto-Rechts geklärt werden. Aktuell können die ständigen Mitglieder bei jeder Frage ein Veto einlegen. Da alle Entscheidungen aber einstimmig getroffen werden müssen, können sie so Entscheidungen blockieren. Eine Alternative könnte sein, das Vetorecht einzuschränken oder dass keines der Länder ein Vetorecht besitzt und wichtige Entscheidungen mit Zweidrittelmehrheit getroffen werden müssen.

Deutschland ist zwar kein Gründungsmitglied der UNO, saß aber in diesem und im vergangenen Jahr im UN-Sicherheitsrat. Welche Rolle sollte Deutschland in Zukunft in der UNO spielen?

Deutschland spielt jetzt schon eine enorm wichtige Rolle als Geldgeber der Vereinten Nationen. Die Bundesrepublik sieht eine wichtige Aufgabe darin, den Multilateralismus handlungsfähiger zu machen. Dieser bedeutet, dass die Staaten ihre Politik miteinander absprechen, gleichberechtigt gemeinsam handeln und sich alle an die Regeln halten. Großmächte wie die USA und China stellen das in den letzten Jahren aber immer mehr infrage und wollen vor allem ihre eigenen Interessen durchsetzen. Deutschland muss auch in Zukunft dafür eintreten, dass die Weltordnung an gemeinsame Regeln gebunden ist.

Welche Auswirkung hat die US-Wahl auf die Zukunft der Vereinten Nationen?

Der bisherige Präsident Donald Trump hat sehr viel dazu beigetragen, die Vereinten Nationen zu schwächen. Er ist aus wichtigen Vereinbarungen wie dem Weltklimaabkommen oder der Weltgesundheitsorganisation ausgestiegen und hält Gelder zurück, die die Vereinten Nationen für ihre Arbeit dringend brauchen.

Mit Joe Biden als neuem Präsidenten haben wir wieder einen Partner, der mehr Interesse an einer internationalen Zusammenarbeit hat und diese auch stärken will. Diese Chance sollten wir aktiv nutzen nicht nur für den Kampf gegen den Klimawandel oder den Hunger in der Welt, sondern zum Beispiel auch für eine Reform der Welthandelsorganisation, um die wirtschaftliche Zusammenarbeit besser als bisher zu regeln.

(lh)

Zur Person

Christoph Matschie, 59, ist Obmann im Unterausschuss "Vereinte Nationen, internationale Organisationen und Globalisierung". Der SPD-Politiker aus Thüringen ist Theologe und Mechaniker. Er war von 1990 bis 2004 Mitglied des Deutschen Bundestages, hat dann in der Landespolitik gearbeitet und ist seit 2017 wieder Abgeordneter. Mehr zu Christoph Matschie erfahrt ihr in seiner Biografie auf bundestag.de.

Mitmischen-Autorin

Laura Heyer

hat in Heidelberg Geschichte studiert, in Berlin eine Ausbildung zur Journalistin gemacht und ist dann für ihre erste Stelle als Redakteurin nach Hamburg gegangen. Dort knüpft sie nun Netzwerke für Frauen. Aber egal wo sie wohnt – sie kennt immer die besten Plätze zum Frühstücken.

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