Chef der Arbeitsagentur „Kein Arbeitsplatz ist weggefallen“
Fabian Ernstberger
Niedrige Löhne sollten nicht weiter nach unten "ausfransen": Experte Detlef Scheele über den Mindestlohn, wer am meisten davon profitiert und wie er den Arbeitsmarkt verändert hat.
Seit 2015 gibt es in Deutschland einen gesetzlichen Mindestlohn. Warum?
Wir hatten in Deutschland die Situation, dass die Löhne immer weiter nach unten „ausfransten“ – dort, wo wenig bezahlt wurde, gingen sie weiter nach unten. Diesen Bereich nennt man Niedriglohnsektor. Das wollten viele nicht länger hinnehmen. Gewünscht war ein einheitlicher Standard. Die Länder haben entsprechend Druck auf den Bund ausgeübt und die damalige Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles von der SPD hat ihn dann eingeführt – erfolgreich, wie man sieht.
Bevor der Mindestlohn eingeführt wurde, befürchteten Gegner, dies könne zu einem massiven Verlust von Arbeitsplätzen führen. Hat sich diese Sorge bestätigt?
Definitiv nicht: Nach allem, was wir wissen, ist kein Arbeitsplatz durch den Mindestlohn weggefallen. Im Gegenteil, es gab viele positive Effekte. So hat sich die Anzahl der Minijobs verringert und es gibt mehr sozialversicherte Arbeitnehmer. Man kann also sagen, dass der Arbeitsmarkt seitdem sehr viel geordneter ist.
Wird denn heute auch tatsächlich überall in Deutschland mindestens der Mindestlohn bezahlt?
Fast ja, es gibt nur eine Ausnahme: Bei Langzeitarbeitslosen gilt der Mindestlohn in den ersten sechs Monaten nicht. Sonst muss jeder mit einem Arbeitsvertrag in Deutschland den Mindestlohn bekommen. Für Praktika gilt das allerdings nicht unbedingt, da gibt es andere Regeln.
Wer legt den Mindestlohn fest?
Hier war es ein – und auch mein – ausdrücklicher Wunsch, dass dies nicht durch die Politik bestimmt wird. Sonst würden sich die Parteien möglicherweise vor jeder Wahl mit Versprechungen zum Mindestlohn überbieten, um gewählt zu werden. Deshalb legt die Mindestlohnkommission den Betrag fest. Sie setzt sich aus Vertretern der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer, also den Tarifparteien, zusammen, die von Wissenschaftlern beraten werden.
Im nächsten Jahr soll der Mindestlohn auf 9,50 Euro steigen. Die Linke allerdings fordert in einem Antrag, den Mindestlohn spätestens zum 1. Januar 2021 auf zwölf Euro pro Stunde zu erhöhen.
Der Mindestlohn darf kein politischer Spielball werden. Die Tarifpartner sollen sinnvolle Vereinbarungen treffen. Ich finde die schrittweise Steigerung bis 10,45 Euro in 2022 eine gute Entscheidung, denn damit berücksichtigen wir auch die Probleme, die Deutschland – nicht zuletzt auch wegen der Corona-Pandemie – aktuell hat. Diese vermeintlich niedrigen Steigerungen sind wichtig, um dann analysieren zu können, wie sich das auf unseren Arbeitsmarkt ausgewirkt hat.
Bevor der Mindestlohn zum Januar dieses Jahres angepasst wurde, haben Sie davor gewarnt, ihn zu schnell zu erhöhen (auch damals war die Summe zwölf Euro im Gespräch). Warum?
Eine große Erhöhung auf einen Schlag würde einige Branchen schlichtweg überfordern – gerade wenn ich an den Osten denke, der strukturell immer noch schwächer ist. Deswegen muss ich nochmal betonen, dass die schrittweise Erhöhung über mehrere Jahre enorm wichtig ist, um den Mindestlohn anzupassen, sonst führt das zu Entlassungen.
Würde das vor allem Geringqualifizierte treffen?
Ja, das würde sie vor allem treffen. Es gibt leider einen Zusammenhang beispielsweise von fehlender Bildung und schlechter Bezahlung. Wer keinen Schulabschluss hat, verdient in aller Regel weniger. Das Risiko dieser Gruppe, im Niedriglohnsektor zu arbeiten, ist besonders hoch. Auf der anderen Seite hat sie am meisten vom Mindestlohn profitiert, weil sie vorher weniger verdient hat.
Wie beeinflusst die Corona-Krise die Diskussion? Ist es überhaupt realistisch, dass eine besonders gebeutelte Branche wie die Gastronomie einen erhöhten Mindestlohn nächstes Jahr bezahlen kann?
Die Mindestlohnkommission hat getagt, als die Auswirkungen von Corona schon bekannt waren. Sie hat sorgfältig abgewogen und entschieden, dass die Erhöhung beibehalten wird. Das wird dann schon richtig sein. Die Gastronomiebranche wird ihren Standpunkt sicherlich in der Diskussion vertreten haben. Die Krise darf auch nicht auf dem Rücken der Mitarbeiter ausgetragen werden.
Zur Person
Detlef Scheele, 63, ist seit 2017 der Vorsitzende des Vorstandes der Bundesagentur für Arbeit. Er hat auch Politik-Erfahrung – als Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales und später als Senator für Arbeit, Soziales, Familie und Integration in Hamburg.
Fabian Ernstberger
ist 19, gelernter Bankkaufmann, lebt in der Oberpfalz und macht gerade sein Abitur. Er engagiert sich in der Schülervertretung und anderen Gremien für mehr Jugendbeteiligung in der Politik. Außerdem ist er beim Bundesprogramm „Demokratie leben!“ aktiv.