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Berlin „Eine große Belastung“

Kolja Richter

Kolja ist 18 Jahre macht gerade in einer Berliner Oberstufe sein Abitur. Er sieht die aktuellen Prüfungen kritisch und findet: Ein sogenanntes Durchschnittsabitur hätte eine Alternative sein können.

Porträt eines jungen Mannes

„Das alles wirkt mehr wie die Evakuierungsmaßnahme eines Flughafens als wie die Prüfungsveranstaltung einer Schule“, sagt Kolja über sein Abi. © privat

Die letzten Wochen waren – und ich denke, ich spreche da für den Großteil der Schülerschaft in Berlin – eine große Belastung. Zu der sozialen Isolierung, dem Verlust des Kontakts zu Freunden und Familie, der sonst eines jeden Alltag so stark prägt, kam der schulische Stress, sich ausreichend auf die Prüfungen vorzubereiten und diese zu bestehen.

Für alle Abiturienten wurde der Unterricht vorzeitig beendet. Der Kontakt zu den Lehrern und die Vorbereitung ihrerseits fehlt.

Kein Abschied nach 12 oder 13 Jahren Schule

Dazu kommt, dass viele Abiturienten nicht die Möglichkeit bekamen, sich von der Schule, welche ja doch 12 oder 13 Jahre lang ihren Alltag prägte, angemessen zu verabschieden, in Form der üblichen Motto-Woche oder eines Abistreichs zum Beispiel. Ich hatte zum Glück mit meinem Jahrgang die Möglichkeit, noch eine Motto-Woche und einen Abistreich zu veranstalten. Corona schien zu der Zeit noch nicht ganz real und wurde eher lustig inszeniert. Unseren geplanten Abistreich, ein Auto ins Foyer zu fahren, führten wir also noch aus.

Am Freitag, dem letzten Tag der Motto-Woche, erreichte uns dann die Nachricht, dass wir in der nächsten Woche nicht mehr zur Schule kommen würden. Die Abi-Vorbereitung gestaltete sich dadurch für viele Schülerinnen und Schüler schwierig.

Kein Laptop, dafür kleine Geschwister betreuen

Mitschüler und Freunde aus anderen Bezirken berichteten, dass bei ihnen die technische Ausstattung nicht ausreichend war oder sie durch Kinderbetreuung den ganzen Tag eingespannt waren. Familien mit geringem Einkommen sind oft auf die Hilfe der älteren Geschwister angewiesen, um ihren Alltag meistern zu können. Wird dann auch noch der einzige Computer oder Laptop von einem Elternteil für das Homeoffice genutzt, bleibt einem weder die Zeit noch das Equipment, sich angemessen vorzubereiten.

Außerdem hatten auch Bibliotheken geschlossen, die für einige Schüler sehr wichtig für die Vorbereitung auf die Prüfungen sind. Dazu kam, dass die Lehrer-Kommunikation teilweise katastrophal organisiert war. Manche Lehrer, die uns auf eine Abiturprüfung vorbereiten sollten, waren wochenlang nicht erreichbar. Damit war das so oft gepriesene digitale „Homeschooling“ auch eher hinfällig.

Nervöse Schüler und Lehrer bei den Prüfungen

Die Prüfungssituationen selbst sind stark von Nervosität und Anspannung geprägt – sowohl vonseiten der Lehrer als auch der Schüler. Das natürlich nicht nur aufgrund der Prüfungen selbst, sondern auch aufgrund der Bedingungen, unter denen sie stattfinden. Die Situation ist neu und seltsam, nicht so wie eine normale Klausur oder wie wir es für das Abi-Szenario geübt hatten.

Alle tragen Masken und versuchen penibel, Mindestabstände einzuhalten, obwohl das natürlich in Gängen, Räumen und WCs einer Schule überhaupt nicht gelingen kann. Es gibt Pläne für das Eintreffen und Verlassen des Schulgebäudes für jeden Schüler, Treppen dürfen nur in eine Richtung benutzt werden, Lehrer stehen an den abgesperrten Gängen und weisen uns den Weg. Mit Mundschutz natürlich. Das wirkt mehr wie die Evakuierungsmaßnahme eines Flughafens als wie die Prüfungsveranstaltung einer Berliner Schule.

Die Vorschriften sind umfangreich, doch seien wir mal ehrlich, wer ist in der Lage, sich in einer nervenaufreibenden Prüfungssituation das alles zu merken und anzuwenden?

Wird unser Abitur weniger wert sein?

Ein Argument für das Durchführen von Prüfungen war die Befürchtung, dass unser Abitur, sollte es einem „Notabitur“ gleichen, welches eher mit einem Kriegszustand assoziiert wird, später an Wertigkeit verliert. Tatsächlich ist an diesem Argument etwas dran, doch andersherum wird unser Abitur im Endeffekt ja auch nicht an Wert gewinnen, wenn wir es unter widrigen Bedingungen oder gegebenenfalls sogar schlechter schreiben als wir eigentlich könnten.

Später wird niemand sagen: „Applaus Applaus! Deinem Abitur rechne ich besonders viel Wert zu, weil du Teil des Corona-Jahrgangs warst! Respekt!“ Sondern es wird, so wie es ja auch sein soll, genau so viel Wert haben wie jedes andere Abitur auch. Sollte ich jetzt also aufgrund der Pandemie weniger Punkte erreichen und damit eventuell nicht den Numerus Clausus für einen langersehnten Studienplatz erreichen, wird niemand zu mir kommen und sagen „Ah! 2020? Das habt ihr damals fein gemacht! Für dich machen wir eine Ausnahme!“ Das wird nicht passieren.

Ist der Infektionsschutz wirklich gewährleistet?

Meiner Meinung nach, die ich mit vielen Berliner Abiturienten teile, sind die Verhältnisse, unter denen wir unser Abitur schreiben müssen, absolut unverhältnismäßig. Läden, Schulen, Kirchen, wichtige Institutionen werden geschlossen, die Straßen sind leer, die Clubkultur in Berlin droht zu sterben und zu guter Letzt gibt es auch noch die Todesfälle, die mit der COVID-19-Pandemie einhergingen – aber Abitur? Nein, unser Abitur ist heilig, das müssen wir schreiben.

Die Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres spricht in einem Brief, gerichtet an den Landesschülerausschuss und alle Schüler der Abschlussjahrgänge 2020, von Abschlussprüfungen, die stattfinden sollen, solange der Infektionsschutz gesichert ist. Doch wer sagt, dass er das ist?

Viele fühlen sich im Stich gelassen und bevormundet. Zwar dürfen Schüler, die einer Risikogruppe angehören, den Prüfungen fernbleiben. Ist man jedoch nur indirekt betroffen, weil beispielsweise ein Familienmitglied im Haushalt zur Risikogruppe gehört, ist man gezwungen, an den Prüfungen teilzunehmen. Eine Berliner Schülerin sagte dazu im Interview mit dem Tagesspiegel: „Ich möchte meine Mutter mit meinem Abitur nicht umbringen“.

Manche Mitschüler arbeiten mittlerweile im Einzelhandel, weil sie darauf angewiesen sind. Mit dem daran angeschlossenen Schulbesuch, zu dem sie gezwungen werden, sofern sie das Abitur dieses Jahr bestehen möchten, setzen sie Mitschüler, Lehrer und damit auch indirekt Menschen in Risikogruppen einer Gefahr aus.

Ein Durchschnittsabitur wäre eine Lösung gewesen

Ich denke, in ganz Deutschland fühlen sich viele Schülerinnen und Schüler im Hinblick auf ihre berechtigten Sorgen abgekanzelt. Unter dem Motto „Abifair“ riefen sie zum Onlinestreik für ein Durchschnittsabitur auf. Durchschnittsabitur, das wäre die Alternative gewesen. Ein Abitur, das nur aus den Noten besteht, die man in den letzten zwei Jahren erarbeitet hat. Für manche wäre das ein Vorteil, für andere ein Nachteil gewesen, aber es wäre ganz bestimmt keine psychische, physische und gesundheitliche Belastung für Schüler und ihre Familien gewesen.

Portraitfoto von mitmischen-Autor Kolja Richter
Mitmischen-Autor

Kolja Richter

ist Schüler in Berlin und hat für mitmischen unter anderem schon viele Abgeordnete per Video interviewt.

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