Sohn fragt Vater „Da sind die absurdesten Dinge passiert“
Michael saß monatelang im Gefängnis, weil er aus der DDR ausreisen wollte. Die Erlebnisse von damals verdrängte er lange. Doch dann arbeitete er seine Geschichte auf. Der Grund: Er wollte sie seinem Sohn Norman richtig erzählen können.
Wie war es denn so als Jugendlicher in der DDR?
Ach, ich war ein ganz normaler Jugendlicher. Zunächst auch überhaupt nicht kritisch. Als Kinder sind meine Geschwister und ich mit den Idealen der DDR aufgewachsen. Wir lebten im Berliner Ortsteil Adlershof. Meine Mutter war bei der Polizei, mein Vater war ein aufstrebender Partei-Funktionär der SED, also der Sozialistischen Einheitspartei der DDR. Als Kind macht man mit, was die Eltern einem vorleben. Auch die Freunde meiner Eltern waren aus diesem Umfeld, viele waren hohe Offiziere. So sind wir in die DDR reingewachsen, ohne viel mit Widerstand und Opposition konfrontiert zu werden.
Ich glaube, mit 15 hätte mich das auch nicht interessiert. Da verbringt man viel Zeit mit den Freunden, beschäftigt sich mit dem Erwachsenwerden. Aber hast du nicht gedacht: Mist, ich würde gerne mal andere Länder sehen?
Die Frage hat sich gar nicht gestellt. Es war klar: Da ist die Mauer, da ist Schluss. Man konnte ins sozialistische Ausland fahren und fertig. Du bist ja in einem Grenzen-freien Europa groß geworden. Du kennst das gar nicht.
Und wann kamst du ins Grübeln, dass etwas nicht richtig sein könnte?
Bei mir gab es ein entscheidendes Ereignis: Als ich 16 war, hat mein Schulfreund Thomas mit seiner Mutter die DDR verlassen, irgendwie haben die das geschafft. Und im gleichen Jahr sind meine Großeltern in den Westen gegangen. Rentner durften ja ausreisen. Da habe ich angefangen nachzudenken: Warum gehen die jetzt dahin, wo, wie ich gelernt habe, alles falsch und böse ist?
Und dann hast du dich entschieden, auch zu gehen?
Na ja, das war ein Prozess von vier Jahren. Erst mit 20 habe ich dann meinen ersten Ausreiseantrag gestellt.
Hast du darüber mit Freunden geredet?
Eher nicht. Das habe ich mit mir ausgemacht. Man war ja auch vorsichtig, was man zu wem sagt. Das hat sich später bestätigt: Ein Kollege hat der „Stasi“, also dem Ministerium für Staatssicherheit, viel über mich erzählt. Die Stasi, das waren der Geheimdienst und die Geheimpolizei der DDR, die die Bürger überwachten und unterdrückten.
Also wussten die meisten Kollegen in der Lehre nichts von deinem Ausreiseantrag?
Nein. Die erste Reaktion auf den Antrag war, dass ich bei der Arbeit in eine andere Abteilung versetzt wurde. Das war immer ein beliebter Schachzug: Man hat die Leute aus ihrem Umfeld geholt, sie isoliert. Aber ich habe weiter auf stur gestellt und gesagt: Ich will ausreisen. Ohne zu wissen, wie das System darauf reagiert. Natürlich auch immer mit einer gewissen Angst vor der Reaktion.
Wie ging es dann weiter?
Aus meiner Stasi-Akte, die ich nach der Wende einsehen konnte, geht hervor, dass die Stasi überlegt hat, wer mich davon überzeugen könnte, in der DDR zu bleiben. Sie haben sich dann auf meinen Vater eingeschossen. Nachdem ich den Ausreiseantrag gestellt hatte, hat mein Vater angerufen und gesagt: „Du kommst jetzt sofort zu mir, wir müssen reden!“ Mir war schon klar, worum es ging. Er hat mir einen Zettel und einen Stift hingelegt und gesagt: „Du ziehst den Ausreiseantrag zurück!“ Ich habe gesagt: „Nee, mache ich nicht.“ Da hat er gesagt: „Dann bist du nicht mehr mein Sohn.“
Nimmst du ihm das heute noch übel?
Na ja. Man hat in der DDR eben schnell gelernt, dass der Staat einem Grenzen aufzeigt. Bis dahin und keinen Zentimeter weiter. Dass das bis in die Familien hineinreichte, das ist pervers. Dass sie es geschafft haben, Menschen so zu manipulieren und gegen ihre eigenen Kinder aufzuhetzen.
Ich hätte mich gerne nochmal mit ihm unterhalten. Aber wir hatten dann nie wieder Kontakt. Ich durfte ja, nachdem ich endlich im Westen war, nicht mehr in die DDR. Und er ist 1985 mit 53 gestorben – du hast ihn ja nie kennengelernt.
Lass und nochmal zurückgehen. Du hast dann in der DDR noch mehr Ausreiseanträge gestellt, richtig?
Ja, insgesamt waren es sieben. Schließlich bin ich am 11. Januar 1982 einfach zur Grenze gegangen, hab meinen Ausweis hingelegt und gesagt: „Ich will ausreisen.“ Ich wurde sofort verhaftet und kam in Untersuchungshaft. Dass das in Berlin Hohenschönhausen war, habe ich erst viel später erfahren, lange nach der Wende. Damals bin ich mit einem fensterlosen Auto dahin transportiert worden. Das war so geheim, das stand nicht mal in meiner Stasi-Akte.
Ich habe deine Akte ja nie gelesen.
Das macht auch echt keinen Spaß. Die DDR hatte einen Abkürzungsfimmel. Man versteht das alles gar nicht, wenn man die Abkürzungen nicht kennt.
Aber wir waren dann irgendwann mal zusammen in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Da war ich 12 oder 13.
Du warst ja der Anlass, dass ich mich überhaupt nach so langer Zeit wieder mit meiner Vergangenheit beschäftigt habe. Du hast mit zehn mitbekommen, dass ich mal im Gefängnis war. Da ist mir durch den Kopf gegangen: Der Junge muss ja jetzt denken, Papa hat im Gefängnis gesessen, der muss Mist gebaut haben.
Stimmt auch. In dem Moment habe ich das nicht verstanden. Natürlich denkt man erst mal: Wer ins Gefängnis kommt, hat was falsch gemacht. Da hilft es auch erst mal nicht, wenn einer sagt, das stimmt nicht.
Woran erinnerst du dich noch von unserem ersten Besuch in Hohenschönhausen?
Man konnte vieles gar nicht glauben. Ich fand das alles ziemlich beängstigend. Wenn man so eine Zelle sieht, da kann man verstehen, dass das Leute kaputt gemacht hat. Ich glaube, ich hätte den Antrag zur Ausreise sofort zurückgezogen, um da rauszukommen.
Ich würde mir auch nie erlauben, da über andere ein Urteil zu fällen. Ich kann nur darüber reden, wie ich mich verhalten habe. Aber ich hatte schon auch Angst. Die haben mir 12 Jahre angedroht – das habe ich lange geglaubt.
Der erste Lichtblick war, als ich meinen Anwalt zum ersten Mal gesehen habe. Es war mir zwar verboten, mit ihm über meinen Fall zu reden. Und wir wurden natürlich abgehört. Aber trotzdem habe ich zwischen dem Smalltalk gefragt: „Wie viel denken Sie?“ Er hat gesagt: „Vier Jahre.“ Das war ja schon mal besser als zwölf. Und dann waren es am Ende ein Jahr und vier Monate, zu denen ich verurteilt wurde.
Wie sah der Alltag in der Untersuchungshaft aus?
Frühstück, Vernehmung, Mittagessen, Vernehmung, Abendbrot. Am Anfang jeden Tag.
Später musste ich dann auch arbeiten. Wir sollten ja durch Arbeit zu einer sozialistischen Persönlichkeit erzogen werden. In meiner Beurteilung steht: „Um zu beweisen, dass er gegen die DDR ist, erbringt er eine Arbeitsleistung von 30 bis 40 Prozent.“
Man kann es auch faul nennen...
Nö, ich hab einfach gesagt: Für die arbeite ich nicht! Da sind ja die absurdesten Dinge passiert: Ich bekam die Hausordnung und sollte sie unterschreiben. In Absatz 1 stand: Dem Strafgefangenen ist es verboten, Kleider und Schuhe in der Zelle zu reinigen. Und in Absatz 2 stand: Der Strafgefangene hat die Zelle in sauberer Kleidung und geputzten Schuhen zu verlassen. Ich habe mich geweigert, das zu unterschreiben. Da hab ich erst mal drei Monate Besuchsverbot bekommen. Keine Anrufe, keine Pakete, nichts.
Nach zehn Monaten bist du von der Bundesrepublik Deutschland freigekauft worden, so etwas gab es ja damals. Wie war die Ankunft im Westen?
Mein Freund Thomas hat mich in Tegel abgeholt. Der wollte mir erst mal den Ku’damm zeigen, das Nachtleben. Aber dafür hatte ich überhaupt keine Nerven. Ich war einfach nur froh, wieder sicheren Boden unter den Füßen zu haben. Ich musste ja zum Glück in kein Aufnahmelager wie andere, weil ich meinen Kumpel und meine Großeltern hatte. Insofern hatte ich keine Start-Schwierigkeiten. Alles richtig gemacht! Das war mein Gedanke damals und das ist mein Gefühl bis heute.
Über Michael und Norman
Michael wurde 1961 in Ost-Berlin geboren und ist in Adlershof aufgewachsen. Nach der Schule machte er eine Ausbildung zum Präzisionsmechaniker. 1982 wurde er verhaftet und inhaftiert, da war er 20. Noch im gleichen Jahr kaufte die BRD ihn frei. Seitdem lebt er in West-Berlin. Er arbeitete später in der Immobilien-Branche und gibt heute Führungen in der Gedenkstätte Hohenschönhausen, dem ehemaligen DDR-Gefängnis, in dem er damals saß.
Norman wohnt wie sein Vater in West-Berlin und arbeitet bei einer Bank. Mit seinen Kollegen redet er nicht oft über die Geschichte seines Vaters, weil ihn Sprüche wie „War doch nicht alles schlecht damals“ nerven.
(protokolliert von jk)