Tschernobyl 1986 Das Fukushima der 80er Jahre
26. April 1986: In der Nacht von Freitag auf Samstag passiert das Unglück. Im Reaktorblock 4 des Kernkraftwerks im ukrainischen Tschernobyl gibt es eine Explosion - radioaktives Material tritt aus. Rund 40.000 Quadratkilometer Land werden für Jahrzehnte verseucht. Drei Wochen später, am 14. Mai, steht der Reaktorunfall in der Sowjetunion auf der Tagesordnung im Bundestag. Damals tagte der Bundestag noch in Bonn.
Die Tschernobyl-Debatte in Worten und Bildern
© DBT, dpa, Lena Kampf
Wie kam es zur Debatte?
Nachdem bekannt geworden war, dass die radioaktive Wolke aus Tschernobyl auch über Deutschland ziehen würde, kam große Unruhe in der deutschen Bevölkerung auf: Kinder durften nicht mehr im Sandkasten spielen, Bauern vernichteten ihre Ernte und LKWs und Autos aus Osteuropa wurden akribisch mit dem Geigerzähler untersucht. Es herrschte Redebedarf. Kurze Zeit später war die Katastrophe von Tschernobyl deshalb auch in Bonn Thema Nummer eins.
Warum hat die Debatte für Aufsehen gesorgt?
Weil sie schon damals Ausdruck des Streits zwischen Gegnern und Befürwortern der Kernenergie war. Die Abwägung zwischen Nutzen und Risiken der Kernenergie wurde mit einem Schlag zum alles beherrschenden Thema – damals wie heute. Im Bundestag flogen die Fetzen, immer wieder musste der damalige Bundestagspräsident Philipp Jenninger um Mäßigung unter den Abgeordneten bitten. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) erntete etwa für sein Plädoyer für "die friedliche Nutzung der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland" scharfe Kritik. "Als kostengünstige Energiequelle sichert die Kernenergie viele Arbeitsplätze", sagte er. Außerdem versicherte er, dass der Reaktor in Tschernobyl in der Bundesrepublik niemals genehmigt worden wäre. Für ihn ging es nicht "um den Ausstieg aus der Kernenergie, sondern um den Einstieg in eine internationale Anstrengung für mehr Sicherheit". Viel Zündstoff für die Abgeordneten der Grünen und der SPD.
Der SPD-Fraktionsvorsitzende Hans-Jochen Vogel kritisierte nicht nur die sowjetische Informationspolitik, sondern besonders auch die Informationspolitik der Bundesregierung. Man müsse jetzt umdenken, doch die Regierung stelle sich dagegen. Auch Gerhard Schröder (SPD), der zwölf Jahre später Nachfolger von Kohl werden sollte, ließ kein gutes Haar an der Regierung. Er war der Meinung, dass das Vertrauen der Bürger in die Fähigkeit der Politik, ehrlich zu informieren, Katastrophen zu begegnen und Menschen zu schützen, auf der Strecke geblieben wäre.
Die Abgeordnete Hannegret Hönes (Grüne) wurde in ihrer Rede schließlich drastisch: "Alle 374 Kernkraftwerke auf dieser Erde sind Kriegserklärungen an die Menschen." Ihr Fraktionskollege und hessischer Staatsminister für Umwelt und Energie, Joschka Fischer, setzte sich für "eine atomfreie Energiepolitik" und einen "Bundeskanzler als Atomkraftgegner" ein.
Unterstützung fand Kohl dagegen beim Innenminister Gerhart Baum (FDP), der im Ausbau der Kernenergie einen "technologischen Fortschritt" sah.
Was hat die Debatte bewirkt?
Der Koalitionspartner FDP forderte die Einsetzung einer Enquete-Kommission, doch dazu kam es nicht. Stattdessen richtete Helmut Kohls Bundesregierung das erste Bundesumweltministerium ein. Am 6. Juni 1986 wurde Walter Wallmann (CDU/CSU) zum ersten Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ernannt. Außerdem wurde seit dem Reaktorunglück von Tschernobyl in Deutschland kein weiteres Atomkraftwerk gebaut.
Was wir von dieser Debatte lernen können
Wir können lernen dass Politik nichts in Stein meißelt, im Gegenteil. Sie muss sich immer wieder dem Weltgeschehen anpassen, darauf reagieren, sich auch mal umentscheiden oder Fehler eingestehen. 1986 wollte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl die Kernenergie nicht abschaffen - zumindest für einen längeren Übergangszeitraum wollte auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) im Herbst 2010 noch an der Kernenergie festhalten. Doch dann kam im März 2011 alles anders: ein Erdbeben, ein Tsunami und eine Reaktorkatastrophe in Japan. Die Bundesregierung entschloss sich daraufhin doch für einen schnelleren Atomausstieg.