Inklusiver Unterricht „Jeder kann etwas beitragen“
Kinder aus allen Stadtteilen, mit Lernschwächen oder Hochbegabung: an einer Schule in Kassel lernen sie gemeinsam. Die Lehrkräfte Elisabeth Schüler und Andrea Michel erklären, warum sie das für den richtigen Weg halten.
Elisabeth Schüler: Die Offene Schule Waldau wird von ganz verschiedenen Kindern besucht. Wir sind eine Stadtteilschule, das heißt, dass die Kinder, die in Waldau wohnen, auf jeden Fall hierherkommen. Wir sind aber auch für Kinder aus allen anderen Stadtteilen offen. Waldau ist ein sogenannter Stadtteil mit besonderem Entwicklungsbedarf. Schon dadurch, dass die Schüler und Schülerinnen aus ganz verschiedenen Gegenden von Kassel kommen, sind wir ein Spiegel der Gesellschaft.
Wir haben hier Kinder mit Förderbedarf, die zum Beispiel Lernschwächen haben. Wir haben aber auch Kinder, die so stark in der Schule sind, dass sie als hochbegabt gelten. Und auf unsere Schule gehen auch Kinder, die dem entsprechen, was man gemeinhin als gesellschaftliche Norm bezeichnen würde. Außerdem haben wir drei Klassen mit Kindern aus der ganzen Welt.
Wir möchten, dass die Kinder, die unsere Schule besuchen, Kraft für das Leben und Lernen nach der Schule entwickeln können.
Andrea Michel: Jeder Jahrgang wird hier von einem Lehrer-Team begleitet, das aus zwölf Lehrkräften besteht. Und jede Klasse wird von zwei gleichberechtigten Co-Klassenlehrern unterrichtet, bestenfalls bestehend aus Mann und Frau. Zudem wird jedes Jahrgangsteam zusätzlich von einer Förderschulkraft unterstütz. Es gibt jeweils ein Team-Zimmer für alle Lehrkräfte des Jahrgangs.
Wir möchten den Kindern hier so etwas wie eine Heimat geben. Die Kinder können ab 7:30 Uhr herkommen und bis 16:30 Uhr bleiben. Wir unterrichten übrigens teilweise auch mit offenen Türen. Außerdem haben wir ein Fach, das sich „Freies Lernen“ nennt und in dieser Ausführung einzigartig in Deutschland ist. In diesem Fach sollen die Kinder lernen, so selbstständig wie möglich zu werden. Sie lernen also, wie man lernt oder wie man recherchiert und Fakten prüft und wie man präsentiert.
Kinder und Jugendliche, die in schulischen Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten beeinträchtigt sind, bekommen in Deutschland eine sogenannte sonderpädagogische Förderung. Die Förderung kann grundsätzlich in allen Schularten stattfinden. Eine speziell ausgebildete Fachkraft unterstützt diese Kinder dann beim Lernen. Der sonderpädagogische Förderbedarf wird in verschiedene Förderschwerpunkte unterteilt: emotionale und soziale Entwicklung, geistige Entwicklung, körperliche und motorische Entwicklung, Hören, Sehen, Lernen und Sprache.
Michel: In der fünften Klasse lernen die Kinder zum Beispiel präsentieren, in dem sie ihr Haustier vorstellen dürfen. Das ist toll, weil jedes Kind diese Präsentation auf seinem Niveau machen kann. Auch ein Kind mit dem Förderschwerpunkt „geistige Entwicklung“ oder „Lernbeeinträchtigung“ kann diese Aufgabe gut umsetzen.
Michel: Wir haben viele Kinder mit dem Förderbedarf „Lernen“. Wir haben auch viele Kinder mit dem Förderschwerpunkt „Hören“ oder „Sehen“ – also Sinnesbeeinträchtigung – und es gibt Kinder, die in ihrer körperlich-motorische Entwicklung beeinträchtigt sind.
Aktuell besuchen unsere Schule leider immer weniger Kinder mit dem Förderbedarf „geistige Entwicklung“. Diese Kinder gehen oft schon in der Grundschule nicht mehr an die Regelschulen, sondern auf die Förderschule. Solange es in Deutschland Förderschulen gibt, und die Ausstattung dort für bestimmte Bedürfnisse besser ist, werden sich viele Eltern wohl weiterhin für diese Schulform entscheiden.
Schüler: Ich glaube, wenn alle Schulen so wären wie unsere, also eine integrierte Gesamtschule – oder in anderen Worten eine Schule für alle Kinder –, dann wären die Chancengleichheit und die Bildungsgerechtigkeit viel ausgeprägter. Diese Prinzipien lassen sich meiner Meinung nach nur mit solchen Schulmodellen verwirklichen.
Michel: Schon allein dadurch, dass es Gymnasien gibt, gibt es von vornherein eine Spaltung, die nicht dem Prinzip der Chancengleichheit entspricht. Auch die Tatsache, dass zunehmend Privatschulen entstehen, für die Eltern mit den entsprechenden finanziellen Mittel sich entscheiden können, trägt nicht zur Bildungsgerechtigkeit bei.
Die Schule für alle wäre möglich, wenn wir es schaffen würden, die Klassengrößen zu reduzieren. Dann könnte man den Kindern gerecht werden und bräuchte meiner Meinung nach keine Förderschulen mehr. So würde Inklusion gelingen. Aber das scheitert natürlich unter anderem an dem akuten Lehrkräftemangel, der von der Politik zu lange verschlafen wurde.
Schüler: Jeder Förderschwerpunkt bringt natürlich eigene Herausforderungen mit und unterschiedliche Lernniveaus müssen von den Lehrkräften gesehen und berücksichtig werden. Deshalb werden die Kinder bei uns in Tischgruppen unterrichtet. Diese Gruppen werden so zusammengestellt, dass sich Lerngruppen bilden, die gut zueinanderpassen. Unterschiedliche Kinder bringen unterschiedliche Stärken mit und die Kinder lernen, Verantwortung nach ihren Möglichkeiten zu übernehmen. Der Grundgedanke ist: Jeder kann etwas beitragen. So profitieren sie auch voneinander.
Außerdem gibt es in den verschiedenen Fächern regelmäßig Unterstützung durch eine zusätzliche Lehrkraft. Das ist zum Beispiel gut, wenn es mehrere Kinder gibt, die nicht gerne vor der Klasse sprechen und dann in kleineren Gruppen lernen können.
Michel: Natürlich ist es eine Herausforderung, dass Kinder mit Förderschwerpunkt trotzdem an den gleichen Lerninhalten wie die anderen Kinder teilnehmen sollen. Ich als Förderschullehrkraft muss deshalb wissen, was in den einzelnen Fächern inhaltlich ansteht und mir überlegen, wie die Kinder auf ihrem Niveau mitarbeiten können.
Schüler: Ich finde, die Frage ist hier, für was man eigentlich lernt? Wir möchten die Kinder auf das echte Leben vorbereiten. Das echte Leben heißt unserer Meinung nach vor allem, dass man mit allen zusammenarbeiten können muss. Man muss in der Gesellschaft Verantwortung übernehmen können und in der Regel kommt der Rest dann von ganz allein
Michel: Mehr als 70 Prozent unserer Schüler und Schülerinnen gehen nach der zehnten Klasse auf die gymnasiale Oberstufe, ein berufliches Gymnasium oder auf die Fachoberschule. Und die Rückmeldungen, die wir von den Schulen bekommen, sind positiv. Die Schüler schaffen den Übergang sehr gut.
Michel: So wie das Schulsystem im Moment größtenteils funktioniert, stecken wir Kinder nach ihren Schwächen in bestimmte Schulen. Alle, die nicht gut lernen können, müssen in eine Extra-Schule und alle die nicht gut hören können, wieder in eine andere. Da finde ich schon den Grundgedanken schlimm, das ist das Gegenteil von Inklusion. Auch dass man Kinder auf Haupt-, Real- und Gymnasialzweige verteilen möchte, gehört für mich dazu.
Wenn alle Kinder miteinander lernen, verstehen sie, wie wichtig es ist, immer wieder miteinander zu sprechen. Sie verstehen, dass nicht jeder immer im Gleichschritt mitgehen kann und dass das ok ist. Und dass trotzdem jeder für sich lernen kann, immer einen nächsten Schritt zu machen.
Schüler: Inklusion heißt, dass alle überall mitgestalten können und dadurch ergeben sich Chancen für unsere gesamte Gesellschaft. Man lernt so, dass es eine große Bandbreite an unterschiedlichen Menschen gibt.
Elisabeth Schüler
Elisabeth Schüler hat Englisch und Arbeitslehre für Haupt- und Realschulen in Kassel studiert. Sie hat 2020 das Referendariat an der Offenen Schule Waldau gemacht und wurde anschließend übernommen. Schüler unterrichtet Englisch, Arbeitslehre und Freies Lernen.
Andrea Michel
Andrea Michel hat Förderschullehramt in Gießen und Marburg studiert und ist seit 2005 an der Offenen Schule Waldau. Sie ist Förderschullehrerin und war vorher zehn Jahre an einer Förderschule tätig.