Arbeitsmarktexperte „Es fehlt eine Willkommenskultur“
Deutschland sucht händeringend nach Fachkräften. Arbeitsmarktexperte Ulrich Walwei hat uns im Interview erklärt, wie es dazu gekommen ist und warum die Situation auch mit fehlender Willkommenskultur zu tun hat.
Dazu müssen wir uns das letzte Jahrzehnt genauer anschauen, also die Jahre ab 2010. In diesem Zeitraum gab es eine wirklich gute wirtschaftliche Entwicklung mit einem sehr starken Beschäftigungswachstum. Die Nachfrage nach Arbeitskräften war auf Unternehmensseite also hoch.
Und gleichzeitig ist der demografische Wandel in diesem Zusammenhang ein wichtiger Punkt: Immer mehr ältere Fachkräfte gehen in den Ruhestand, immer weniger junge Menschen rücken nach. Es gibt also weniger Fachkräfte auf der Angebotsseite. Besonders problematisch ist es hier im Bereich Berufsausbildung. Junge Leute interessieren sich weniger für eine Berufsausbildung als früher.
Außerdem sind wir im Bereich Weiterbildung in Deutschland nicht so weit, wie wir sein sollten. Große Veränderungen wie die Digitalisierung und die Dekarbonisierung erfordern eine Anpassung von dem, was Fachkräfte können müssen: neue Fähigkeiten und Kompetenzen werden gefordert. Aber es gibt noch nicht genügend passende Weiterbildungsangebote.
Und zu guter Letzt müssen wir auch über das Fehlen einer systematischen Einwanderungsstrategie sprechen. Denn wenn Menschen auf dem Arbeitsmarkt fehlen, ist es immer eine gute Option, Fachkräfte aus dem Ausland in Betracht zu ziehen. In Deutschland hat man versäumt, sich mit diesem Thema rechtzeitig auseinanderzusetzen.
Wenn viele Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt fehlen, hat das in erster Linie natürlich zur Folge, dass die Betriebe zum Beispiel Aufträge nicht annehmen oder realisieren können. Menschen einzustellen, wird teurer, weil mehr Suchkanäle eingeschaltet werden müssen und Stellen oft länger unbesetzt bleiben. Und das hat zur Folge, dass die Wirtschaft nicht in der Weise wachsen kann, wie es unter anderen Umständen möglich wäre.
Ich finde, der Entwurf enthält innovative Schritte. Man möchte den Zuzug von Fachkräften aus dem Ausland erleichtern. Deswegen ist es nicht mehr zwingend erforderlich, dass die Qualifikationen der Fachkraft hier anerkannt sind. Sondern die Berufserfahrung ist entscheidend. Im Nachgang müssen dann trotzdem noch Anerkennungsverfahren durchlaufen werden, in denen die ausländischen Berufsqualifikationen geprüft werden. Aber wer eine Arbeitsplatzzusage hat, für den ist die Einwanderung erst einmal erleichtert. Das ist ein Fortschritt.
Problematischer finde ich das Thema Gehaltsschwellen. Gehaltsschwellen legen fest, ab welchem Bruttogehalt ein bestimmter dauerhafter Aufenthaltstitel beantragt werden kann. Die Schwellen finde ich im aktuellen Entwurf noch sehr hoch. Man muss sich meiner Meinung nach fragen, mit wem man die ausländischen Fachkräfte vergleichen kann. Aktuell wird eher geguckt, was andere Fachkräfte mit Berufserfahrung im selben Bereich verdienen. Aber vielleicht müsste man sich eher an den Gehältern der Berufseinsteiger orientieren. Dann würde klar, dass nicht alle diese Gehälter von Beginn ihres Erwerbslebens erreichen und die Schwellen zu hoch angesetzt sind.
Aus der Migrationsforschung wissen wir außerdem, dass Menschen, die zuwandern, oft in kleineren Betrieben arbeiten. Auch dies stellt die Schwellenwerte in Frage, weil sie nicht sofort erreicht werden können. Diese Gehaltsschwellen sind ein Punkt, der es schwierig macht abzusehen, ob das Gesetz die erhofften Effekte erzielen wird.
Ein weiterer Punkt, den ich innovativ und in Teilen problematisch finde, ist die sogenannte Chancenkarte. Bestimmte Personen sollen dadurch die Möglichkeit bekommen, zur Arbeitssuche einzuwandern. Zu den Auswahlkriterien gehören zum Beispiel Sprachkenntnisse und Berufserfahrung. Obwohl auch in diesem Zusammenhang von einem „Punktesystem“ die Rede ist, darf dies nicht mit einem Punktesystem verwechselt werden, wie es das beispielsweise in Kanada gibt. Dort stellt das Punktesystem eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung in Aussicht.
Nach dem Gesetzentwurf der Bundesregierung wäre die Chancenkarte aber nur so etwas wie eine Eintrittskarte. Man kann eine gewisse Zeit nach einer Stelle suchen und dabei nebenberuflich tätig sein. Aber es bleibt offen, ob man am Ende bleiben darf. Planungssicherheit ist das für die Menschen definitiv nicht – besonders weil auch Familien von solchen Regelungen betroffen sein können. Hier muss man sich fragen, für wie viele Menschen diese Angebote dann wirklich interessant sind. Es gibt im aktuell gültigen Gesetz bereits die Möglichkeit zur Arbeitsplatzsuche einzuwandern. Das ist bisher so gut wie gar nicht in Anspruch genommen worden.
In den letzten Jahren gab es durchschnittlich ungefähr 1,2 bis 1,5 Millionen Zuzüge aus dem Ausland nach Deutschland. Davon waren zuletzt rund 40.000 Zuzüge zu Erwerbszwecken. Das ist im Verhältnis ein kleiner Teil. Wir müssten ganz andere Größenordnungen erreichen, um tatsächlich die Fachkräftelücken zu schließen. Deswegen bin ich noch zögerlich, wenn es darum geht, den Gesetzesentwurf als großen Wurf zu bezeichnen.
Es wäre eine Art Vertrauensvorschuss für diejenigen, die einwandern, weil sie damit eine Gewissheit bekommen, dass sie aufgenommen werden und die Möglichkeit haben, sich in diesem Land zu entwickeln. Die Chancenkarte ist hingegen ein Wagnis. Die Aufenthaltsgenehmigung kann auch entfallen, wenn die Suche nicht erfolgreich ist.
Ich finde, man muss klarer zeigen: Wir möchten hier Menschen haben, denen wir sichere Perspektiven in Aussicht stellen. Und ich finde nicht, dass das aktuell in einem Maße der Fall ist, der an die klassischen Einwanderungsländer herankommt.
Das sehe ich ganz genauso. Früher hat man immer von den sogenannten Gastarbeitern gesprochen. Dabei waren es eben keine Gastarbeiter, die nur für eine vorrübergehende Zeit hier gearbeitet haben. Viele sind in Deutschland geblieben.
Deutschland hat diese Selbstwahrnehmung, ein Einwanderungsland zu sein, immer gefehlt. Und auch deshalb gibt es einen Mangel an Offenheit, es fehlt eine gewisse Willkommenskultur. Teilweise gibt es Vorurteile. So ist es schwer, ausländische Fachkräfte anzuziehen. Es ist sehr bedauerlich, dass wir nicht schon früher klar zu erkennen gegeben haben, dass Einwanderung für uns wichtig ist und eine Bereicherung darstellt.
Und es ist nicht so, dass Deutschland mit seinem Fachkräftemangel allein dasteht. Der demografische Wandel ist in den meisten westlichen Ländern eine Herausforderung. Insofern stehen wir in großer Konkurrenz zu den anderen Ländern und müssen uns wirklich gut überlegen, was wir anbieten wollen.
Die Fachkräfteeinwanderung ist ein sehr wichtiger Schritt, langfristig vielleicht sogar der wichtigste. Analysen haben gezeigt, dass es auf lange Sicht der stärkste Hebel ist, um dem Problem zu begegnen. Aber wir können noch mehr tun.
Wir sollten dafür sorgen, dass wir in der beruflichen Ausbildung keine jungen Leute verlieren. Und wir müssen am lebenslangen Lernen arbeiten: Wenn neue Herausforderungen entstehen, muss man denen mit entsprechender Weiterbildung begegnen.
Außerdem gibt es viele Eltern, hauptsächlich Frauen, die in Teilzeit arbeiten. Hier geht es um die Frage, wie Kinderbetreuung geregelt werden kann, sodass Eltern arbeiten können. In diesem Zusammenhang müssen wir uns auch darüber Gedanken machen, wie man Menschen unterstützen kann, die Angehörige pflegen. Wir brauchen Rahmenbedingungen, die Erwerbsarbeit erleichtern.
Auch die qualifizierten Älteren könnten weiterbeschäftigt werden, wenn die richtigen Anreize geschaffen werden. Und Erwerbslose könnten langfristig zu Fachkräften weitergebildet werden. Vielleicht nicht im ersten Schritt, aber wenn man den Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt schafft, könnten entsprechende Maßnahmen sie zu den Fachkräften von morgen machen.
Ulrich Walwei
Ulrich Walwei ist 1958 in Versmold, Nordrhein-Westfalen geboren. Nach der Schule studierte er Volkswirtschaftslehre in Paderborn und promovierte dort. Ab 1988 war Walwei als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) beschäftigt, später leitete er dort den Forschungsbereich „Wachstum, Demographie und Arbeitsmarkt“. Seit 2002 ist er Vizedirektor des Instituts. Er beschäftigt sich vor allem mit Arbeitsmarktinstitutionen, Arbeitsmarkttrends und Arbeitsmarktpolitik. Seit 2017 ist er Honorarprofessor am Institut für Volkswirtschaftslehre und Ökonometrie der Universität Regensburg.