Ukrainer Vitalii „Ich bin wütend und ich habe Angst“
Der Ukrainer Vitalii, 36, war vor zehn Jahren im Bundestag, als Teilnehmer der internationalen Jugendbegegnung des deutschen Parlaments. Wo ist er jetzt, wie geht es ihm und wie erlebt er den Krieg?
Wo in der Ukraine bist du normalerweise zuhause? Und wo bist du jetzt? Vor allem: Wie geht es dir?
Ich komme aus Kyjiw, der Hauptstadt der Ukraine und ich möchte, dass ihr den Namen in der ukrainischen Schreibweise verwendet. Das ist meine Heimatstadt, seit ich denken kann. Als der Krieg ausbrach, mussten meine Frau und ich schnell die Stadt verlassen, um unser ein Jahr und acht Monate altes Baby zu schützen. Jetzt bin ich von meiner Familie getrennt. Meine Frau und mein Kind haben die Ukraine verlassen. Ich selbst bin noch nicht nach Kyjiw zurückgekehrt. Ich befinde mich im zentralen Teil der Ukraine bei Freunden in relativer Sicherheit. Meine Eltern, mein Bruder und meine Oma sind immer noch in Kyjiw. Mir geht es nicht wirklich gut. Aber wer von uns könnte das schon von sich behaupten?
Wie erlebst du den Krieg? Wie bist du und wie ist deine Familie davon betroffen?
Bis jetzt waren meine Kriegserlebnisse noch nicht dramatisch. Luftangriff-Sirenen, ferne Schussgeräusche, halbleere Supermärkte und ständiger Stress für meine Familienmitglieder in Kyjiw. Meine Situation ist besser als die vieler, vieler anderer Menschen in der Ukraine, Familien mit kleinen Kindern eingeschlossen. Ich höre ihre Geschichten von engen und entfernten Freunden und sie lassen mich schaudern.
Natürlich vermisse ich meine Familie sehr und sie mich. Bisher waren wir drei noch nie länger als zwei Nächte voneinander getrennt. Jetzt wissen wir nicht, wann wir die Chance bekommen werden, uns wiederzusehen. Das ist für alle sehr schwer. Und dennoch: Ich bin in relativer Sicherheit, sie sind es auch und die meisten entfernteren Verwandten ebenso. Ich kann an manchen Projekten weiterarbeiten, Geld sammeln für die, die es brauchen, und auch selbst Geld spenden.
Wie gestaltet sich dein tägliches Leben aktuell?
Ich lebe auf einer Couch in einer unbekannten Stadt. Aber ich wohne bei Freunden, die mir eine große Unterstützung sind, das ist wichtig. Mit vielen anderen Freunden aus aller Welt bin ich in Kontakt. Es gelingt mir, ein bisschen zu arbeiten, bei Freiwilligendiensten zu helfen, zu spenden und Spendengelder einzusammeln.
Jeden Tag und jede Nacht gibt es mehrfach Luftangriff-Alarm, dann müssen wir runter in den Schutzraum. Mit den jüngsten Eskalationen – russische Soldaten greifen immer mehr zivile Ziele mit Bomben und Raketen an – wird der Alarm immer häufiger und länger. Doch bisher wurde die Stadt, in der ich mich befinde, noch nicht getroffen.
Du arbeitest für das Ukrainian Center For Holocaust Studies und beschäftigst dich beruflich mit den Verbrechen der Nationalsozialisten. Ist das Center noch aktiv?
Ja, wir versuchen unser Bestes. Die ersten Wochen waren ein Schock. Jetzt raufen wir uns zusammen und überlegen, was wir unter den Umständen tun können, wie wir unser Netzwerk unterstützen und aufrechterhalten können, wie wir die Menschen, die wir kennen, erreichen und unterstützen können. In den vielen Jahren unseres Bestehens – dieses Jahr sind es 20 – haben wir enge Verbindungen zu Menschen im ganzen Land aufgebaut. Für uns stehen hinter den Namen der Städte, die die „russen“ bombardieren oder belagern, Menschen, die wir kennen und die leiden.
(Anmerkung der Redaktion: Vitalii hat uns darauf hingewiesen, dass die Wörter „russland“, „russen“ und „putin“ in der Ukraine nicht mehr mit Großbuchstaben geschrieben werden. Er hat uns darum gebeten, es auch in diesem Interview so zu handhaben.)
Das Projekt „Netzwerk Erinnerung“, in das meine Organisation und auch ich persönlich stark involviert sind, hat sich umstrukturiert. Es hilft nun auf ganz unterschiedliche Weise Menschen, die seit Langem für das Projekt tätig sind. Sonst arbeiten sie zu den Themen Holocaust-Massengräber und Erinnerung an das jüdische Kulturerbe. Jetzt sind sie mit ganz anderen Herausforderungen und Bedrohungen konfrontiert. Unser Projekt-Team versucht, ihnen in der schwersten Zeit ihres Lebens zu helfen. Sie leben in mehr als 40 verschiedenen Orten in der ganzen Ukraine verteilt. Manche davon werden derzeit massiv beschossen, manche sind vorübergehend besetzt, manche sind in Gefahr, in Kampfhandlungen involviert zu werden.
Vor zehn Jahren warst du auf Einladung des Bundestages Teilnehmer der Jugendbegegnung, die jährlich in Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus stattfindet. Jetzt behauptet Putin, er wolle die Ukraine „entnazifizieren“. Wie geht es dir damit?
Das ist nicht die erste Lüge, die er beziehungsweise „russland“, über unser Land verbreitet. Seit 2013/2014 wird es im großen Stil gemacht, aber eigentlich war es schon immer auf der Agenda. Deshalb ist es für mich nicht neu, solchen Unsinn zu hören. Wen kümmert seine dumme Ausrede, die natürlich falsch ist. Für den Westen mag so eine offensichtliche Lüge überraschend sein, für uns nicht. Wir werden schon eine ganze Weile als „jüdische Banderivets“ bezeichnet. Denn sowohl den Juden als auch den Ukrainern wurde und wird vom russischen Reich, von der Sowjetunion und den kranken Köpfen russischer Propagandisten ihre Identität verwehrt. Jetzt ist diese Lüge der Vorwand für einen Krieg und massive Verbrechen gegen Zivilisten. Das war sie auch 2014 schon für die Aneignung von Teilen der Ukraine und Krieg im Osten des Landes. Nur wollte damals kaum jemand im Rest der Welt seine Augen öffnen und das Monster als das erkennen, was es ist. Aus diesem Grund sind meine Schwiegereltern, die ursprünglich aus Donetsk kommen, jetzt zum zweiten Mal in acht Jahren heimatlos.
(Anmerkung der Redaktion: Der Begriff „Banderivets“ entstammt der russischen Propaganda. Stepan Bandera war ein nationalistischer ukrainischer Partisanenführer.)
Meine Gefühle: Ich bin wütend, ich bin voller Hass, und ich habe Angst. Denn jeden Tag erreichen mich Nachrichten, dass die Verbrechen, die im Zweiten Weltkrieg von den Nationalsozialisten auf ukrainischem Boden verübt wurden, jetzt von den russischen Besetzern wiederholt werden. Und wenn unsere Armee und die Menschen in der Ukraine sich nicht so vehement verteidigen würden – wer weiß, welches Ausmaß diese Verbrechen jetzt schon angenommen hätten. Was hier gerade passiert, legt nahe, dass die Angreifer bereit sind, so gut wie alles zu tun, um Zivilisten zu schaden und das Land niederzubrennen. Das erinnert doch sehr an den Plan der Nazis, den Osten als ihren „Lebensraum“ zu besetzen, nur dass er nun durch ihre russischen ‚Nachfolger‘ umgesetzt wird.
Schaust du durch die aktuellen Ereignisse in deinem Land anders auf den Zweiten Weltkrieg?
Ja. Ich arbeite als Pädagoge, vor allem mit Erwachsenen. Jetzt wird mir klar, dass ich nie wieder über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust werde reden können, ohne mich auf die Erfahrung der Menschen im jetzigen Krieg zu beziehen. Auf ihr Leid und das Leid ihrer Familien.
Ein vielsagendes Beispiel: Im letzten Jahr haben wir viel mit einem Buch gearbeitet, dessen Titel lautet „Claras Krieg: Die Überlebensgeschichte eines Mädchens“. Es basiert auf den Tagebüchern eines Mädchens, das sich zusammen mit kleineren Kindern, Verwandten und fremden Erwachsenen 18 Monate lang in einem Keller verstecken musste. Sie überlebte die Besetzung der Nazis und die anschließenden russischen Bombardements nur knapp. Nun, für 90 Prozent unserer Leser war das bisher eine wahre und schreckliche Geschichte. Jetzt ist es für die allermeisten von ihnen eine Geschichte, die sie selber, ihre Verwandten oder Freunde buchstäblich durchlebt haben – und in manchen Fällen nicht überlebt haben. Eine Geschichte, der sie ihre eigenen Erfahrungen von Vertreibung, Überlebenskampf und Verlust von Freunden und Familie hinzufügen können.
Das Gleiche gilt für das Verständnis von Gedenkstätten. Wie werden die Straßen von Mariupol, Kharkiv, Ohtyrka, Irpin, Bucha und vielen anderen Orten aussehen und sich anfühlen? In diesen Tagen müssen die Menschen in Mariupol ihre Toten in Höfen oder Massengräbern vergraben, weil es keine Möglichkeit gibt, eine ordentliche Beerdigung zu organisieren. Wie werden wir diese Orte und die Massengräber des Zweiten Weltkrieges wahrnehmen, wenn dieser Horror vorbei ist?
Wie geht es für dich jetzt weiter?
Nun, die Zukunft ist unsicher. Man kann nichts planen, man kann nichts vorhersagen. Ich möchte optimistisch sein, dass die Ukraine den Krieg gewinnt. Aber ich traue mich nicht, diesen Optimismus in Größen wie Tage, Wochen oder Monate zu gießen. Oder darüber nachzudenken, welchen Preis ein Sieg hätte. Der Preis einer Niederlage wäre auf jeden Fall höher, für ganz Europa, nicht nur für uns.
Das Schlimmste für mich ist, dass ich keine Perspektive habe, wann ich wieder mit meiner Familie und meinem Baby zusammen sein kann. Männer zwischen 18 und 60 Jahren können das Land nicht verlassen, solange das Kriegsrecht gilt. Das wiederrum kann nicht enden, bevor der Krieg zu Ende ist. Niemand weiß, wann das sein wird. Für den Moment scheint es sicher zu sein, dass wir am zehnten Jahrestag unserer Hochzeit im April Tausende Kilometer voneinander entfernt sein werden.
Werde ich im Krieg kämpfen müssen? Ich bin ein Zivilist ohne jegliche militärische Erfahrung, aber mit einer allgemeinen Wehrpflicht als ukrainischer Bürger. Ich bin beim örtlichen militärischen Hauptquartier registriert und kann jederzeit eingezogen werden, wenn sie entscheiden, dass ich gebraucht werde. Im Moment lautet die offizielle Information, dass es genug Leute mit Erfahrung und Kampfbereitschaft gibt, so dass jemand wie ich nicht eingezogen werden muss. Aber ich werde nicht mal versuchen, „nein“ zu sagen, wenn doch eine Einberufung kommt.
Aktuell arbeite ich hier und tue, was ich tun kann, um dem Militär, den hilfsbedürftigen Menschen und der Wirtschaft meines Landes zu helfen. Wir planen derzeit höchstens ein paar Tage im Voraus.
Wie, glaubst du, wird die politische Situation sich weiter entwickeln?
Die Ukraine, die Menschen in der Ukraine, also wir, werden so lange kämpfen, wie wir leben. Hoffentlich wird der Rest der Welt so einig bleiben, wie er jetzt ist, aber mutiger und entschiedener, uns zu helfen. Ich wünsche mir, dass der Krieg bald endet. Und die Ukraine kann ihn nicht alleine schnell beenden. Wir werden sehen, wie lange andere Länder noch bereit sind, die Menschen in der Ukraine leiden zu lassen. Im Moment leisten wir Widerstand und das verdanken wir unter anderem auch unseren Freunden. Aber reicht das wirklich? Nein, mehr könnte und sollte getan werden. Und ich hoffe, dass es so kommt.
(Interview vom 17. März 2022)
(jk)