Blog Tag 5 „Vielleicht kannst du uns heute zuhören, lieber Karl“
Am letzten Tag der Jugendbegegnung erleben die Teilnehmer die Gedenkstunde im Bundestag mit. Anschließend diskutieren sie mit der Bundestagspräsidentin und den beiden Zeitzeugen, die im Plenarsaal gesprochen haben.
In den vergangenen drei Tagen haben wir uns intensiv mit der Verfolgung sexueller Minderheiten in der NS-Zeit auseinandergesetzt, Einzelschicksale erforscht, Gedenkstätten und Denkmäler besucht. Heute ist schon der letzte Tag der Jugendbegegnung und er beginnt mit einem Höhepunkt. Wir dürfen bei der Gedenkstunde zum 27. Januar, dem internationalen Holocaust-Gedenktag, mit in den Plenarsaal, dorthin wo sonst nur Abgeordnete sitzen.
Alle haben ihre Alltagskleidung gegen Bluse, Hemd, Blazer oder Anzug getauscht und warten gespannt vor den gläsernen Türen des Plenarsaals. Ein Teilnehmer ist besonders auf den Bericht der Zeitzeugin gespannt, andere fragen sich, wie voll es wohl werden wird und ob alle Fraktionen vertreten sein werden.
Um kurz vor zehn haben wir alle unsere Plätze in den letzten beiden Reihen des Saals eingenommen. Die Teilnehmenden schauen sich gespannt um, entdecken viele Spitzenpolitiker. Als der Gong ertönt, stehen alle auf. Obwohl der Plenarsaal und die Tribünen an diesem Freitag gut gefüllt sind, ist nur das Klicken der Fotokameras zu hören.
Ein Doppelleben
Rozette Kats, die in der Gedenkstunde spricht, gehört zwar selbst keiner sexuellen Minderheit an, doch sie setzte sich dafür ein, dass auch dieser Opfergruppe gedacht wird. Außerdem könne sie viele Parallelen zwischen ihrer eigenen Geschichte und den Verfolgten ziehen. Lange Zeit habe auch sie ein Doppelleben geführt. Kats wurde als Kind jüdischer Eltern geboren. Um sie vor der Verfolgung zu retten, hätten ihre Eltern sie mit acht Monaten an ein niederländisches Ehepaar übergeben. Fortan lebte sie als Rita unter falscher Identität. Erst mit sechs Jahren erfuhr sie ihre Lebensgeschichte von ihren Adoptiveltern. Sie behielt dies für sich, verleugnete ihre Vergangenheit bis sie mit 50 Jahren eine Therapie begann und Menschen traf, die ein ähnliches Schicksal hatten: „Es macht Menschen krank, wenn sie sich verstecken und verleugnen müssen“, sagt Kats. Als sie endet erheben sich die Anwesenden, klatschen lange Beifall.
Da es keine bekannten homosexuellen Zeitzeugen mehr gibt, die über ihre Leben während der NS-Zeit erzählen könnten, stellen die Schauspieler Maren Kroymann und Jannik Schümann die Schicksale von zwei Verfolgten vor: Mary Pünjer, die als lesbische Frau im Frauen-KZ Ravensbrück inhaftiert war und von den Nationalsozialisten ermordet wurde, und Karl Gorath. Unter Berufung auf den Paragraphen 175 wird Gorath verhaftet, kommt in das KZ Neuengamme bei Hamburg und wird später nach Auschwitz deportiert. Er überlebt, sein Leid wird jedoch Zeit seines Lebens nicht anerkannt. Stattdessen wird er auch in der Bundesrepublik wegen eines Verstoßes gegen den Paragraphen 175 angeklagt und sieht sich demselben Richter gegenüber, der ihn schon unter der Herrschaft der Nationalsozialisten verurteilt hatte. Mit 90 Jahren stirbt Gorath im Jahr 2003. „Vielleicht kannst Du uns heute zuhören, lieber Karl“, beendet Schümann seinen Lesebeitrag.
Dass die Verfolgung Homosexueller nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht aufhörte, davon berichtet der zweite Hauptredner des heutigen Tages, Klaus Schirdewahn: „Die Würde der Homosexuellen blieb in Deutschland auch nach 1945 angreifbar.“ Er wird selbst 1964 wegen eines Verstoßes gegen Paragraph 175 verurteilt, muss sich einer „Konversionstherapie“ unterziehen, die seine Homosexualität „heilen“ soll. Auch Schirdewahn spricht von einem Doppelleben, einer Zeit, „in der ich mich dafür schämte, wie ich fühlte“. Aufgrund der drohenden sozialen Ausgrenzung dauert es viele Jahre bis sich Schirdewahn offen zu seiner Homosexualität bekennt, öffentlich spricht er erstmals 2017 darüber.
Die Gedenkstunde im Bundestag
Begegnungen schaffen
Schirdewahns Worte hätten gezeigt, dass die Verfolgung queerer Menschen noch nicht beendet sei und dass es umso wichtiger sei, diese zu schützen, sagt Paulina (18) nach der Gedenkstunde.
Auch Moritz (23) fand die Gedenkstunde sehr gelungen. Das Konzept der Lesebeiträge als eine Alternative zu Zeitzeugenberichten habe ihn überzeugt und könne eine gute Alternative für die Zeit sein, wenn keine Überlebenden mehr da seien, die selbst davon berichten könnten, erzählt er mir, während wir uns direkt im Anschluss an die Gedenkstunde auf dem Weg zur Podiumsdiskussion machen. Eine Stunde haben die Teilnehmenden, um mit der Bundestagspräsidentin Bärbel Bas und den beiden Hauptrednern zu diskutieren. Wieder erheben sich alle, als Bas den Saal betritt. „Das ist ja wie im Plenarsaal“ sagt sie lachend und bittet die Anwesenden, sich zu setzen.
Worin liegen die Ursachen für das Unwissen vieler Menschen über das Judentum und was könne dagegen getan werden, wollen die Teilnehmenden wissen. Es fehle oftmals an Begegnungen und Berührungspunkten. Daher müsse man persönlichen Kontakt suchen, sagt Kats. Auch die Bundestagspräsidentin will durch Begegnungen mehr Berührungspunkte schaffen. Sie hätte Freundinnen gehabt, von denen sie lange nicht gewusst hätte, dass diese jüdischen Glaubens seien. Dabei sei genau dieser Austausch so wichtig, um Erfahrungen, Ängste und Emotionen zu teilen und den anderen zu verstehen.
Wie Schirdewahn heute auf seine Verfolgung zurückblicke, möchte ein Teilnehmer wissen. Es sei schwierig für ihn gewesen, über seine Sexualität zu sprechen, nachdem er fast sein ganzes Leben ein Doppelleben geführt habe. Für ihn sei es jetzt jedoch an der Zeit gewesen, mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen und sich nicht länger zu verstecken. Er kenne jedoch auch viele ältere Männer, die ein solches Doppelleben immer noch führten, aus Angst jemand könne erfahren, dass sie schwul seien.
Wir müssten als Gesellschaft an den Punkt einer Selbstverständlichkeit kommen, an dem es egal ist, wen man liebt oder welche Sexualität jemand hat, ergänzt die Bundestagspräsidentin. Sie hoffe, dass diese Gedenkstunde ein Auftakt für eine Debatte in der Gesellschaft zur heutigen Diskriminierung sexueller Minderheiten werde.
Gelerntes Weitertragen
Mit dem Ende der Podiumsdiskussion ist auch die diesjährige Jugendbegegnung beinahe beendet. Alice (22) von dem Projekt „Meet a Jew“ zieht eine positive Bilanz. Sie sei mit der Erwartung zur Jugendbegegnung gekommen, sich intensiv mit dem Thema auseinanderzusetzen und viel Neues zu Lernen. Beides habe sich erfüllt: „Ich habe das Thema noch nie so tiefgreifend erarbeitet wie hier“, sagt sie. Dieses Wissen werde sie mitnehmen und weitergeben.
Die letzten Tage waren sehr intensiv und sicherlich braucht es noch etwas Zeit, bis ich das alles für mich gedanklich sortiert und reflektiert habe. Bei mir hat die Jugendbegegnung das Bewusstsein dafür geschärft, dass Verfolgung und Ausgrenzung nicht für alle Opfergruppen mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufhörten und dass es diese klare Grenze zwischen Vor- und Nachkriegszeit nicht in allen gesellschaftlichen Bereichen gegeben hat.
(Denise Schwarz)