Auschwitz-Experte „Tote auf zwei Beinen“
Vor 75 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Christoph Heubner vom Internationalen Auschwitz-Komitee über die Gaskammern der Nazis, die Gesichter der Opfer und den Hass von heute.
Herr Heubner, vor 75 Jahren wurde das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befreit. Können Sie uns schildern, was da genau geschah im Winter 1945?
Es war ein extrem kalter Winter. Die wenigen Menschen, die die mörderischen Verbrechen der Nazis in Auschwitz überlebt hatten, waren bis auf die Knochen ausgehungert und froren deshalb umso stärker. Die Rote Armee, also die Truppen der Sowjetunion, war zu dieser Zeit auf dem Vormarsch gegen das Hitler-Regime. Der Anblick, der sich den Soldaten bot, die am 27. Januar das Lager erreichten, war schrecklich: Überall Leichenberge und überall Asche, aus der noch Knochen herausragten. Die wenigen Überlebenden des Lagers waren Tote auf zwei Beinen. Dass sie noch lebten, erkannte man nur an der leichten Bewegung ihrer Augen. Die Ärzte der Roten Armee haben dann sofort damit begonnen, sie zu versorgen. Sie mussten dabei enorm vorsichtig sein. Denn die Menschen waren derart abgemagert, dass sie an fester Nahrung hätten sterben können.
Die Befreiung von Auschwitz markiert das Ende eines unbegreiflichen Gewaltverbrechens, das Ende des sogenannten Holocausts. Was bedeutet dieser Begriff?
Der Begriff bedeutet so viel wie das große Feuer. Er bezeichnet im Grunde die Verbrennung von lebendigem Fleisch. Und genau das hat stattgefunden in den Gaskammern und Krematorien der Vernichtungslager.
Warum spricht man manchmal vom Konzentrationslager und manchmal vom Vernichtungslager. Was ist jeweils gemeint?
Vernichtungslager waren Orte, die nur dazu dienten, die Menschen, die eintrafen, sofort zu ermorden. Neben Birkenau gab es etwa noch die Lager Treblinka oder Sobibor. Konzentrationslager waren hingegen auch Arbeitslager. Aber auch dort wurden die Inhaftierten ermordet. Die Zwangsarbeit war im Grunde nichts anderes als eine Mordwaffe. Denn entweder sind die Häftlinge durch die schwere Arbeit oder an Unterernährung gestorben, oder sie wurden vergast, sobald sie nicht mehr arbeitsfähig waren. Auschwitz war beides – sowohl ein Konzentrations- als auch ein Vernichtungslager.
Auschwitz ist eine Kleinstadt in Polen, etwa eine Autostunde von Krakau entfernt. Sie haben andere Lager in Polen erwähnt: Treblinka und Sobibor. Letzteres liegt unweit der Grenze zur heutigen Ukraine. Wie kam es zu der Wahl dieser Standorte?
Das hatte vor allem praktische Gründe für die Nazis. Erstens lebten sehr viele jüdische Familien bereits in diesen Regionen. Und zweitens lagen sie verkehrstechnisch günstig. Die Menschen wurden ja aus allen möglichen europäischen Ländern in die Lager deportiert – ob aus Frankreich oder aus Griechenland. Außerdem lagen die Orte auch einigermaßen versteckt vor den Augen der Weltöffentlichkeit.
Schätzungen zufolge wurden in Auschwitz-Birkenau zwischen einer und eineinhalb Millionen Menschen getötet. Die meisten von ihnen waren Juden. Warum wissen wir so wenig über die genauen Opferzahlen?
Das hat damit zu tun, dass manche Transporte nicht genau erfasst wurden. Man wusste oft nicht, ob nun 80 oder doch 100 Menschen in einem Zugwaggon waren, der das Lager erreichte. Die Überlebenden hatten anfangs immer von noch größeren Zahlen berichtet. Und das ist menschlich verständlich. Denn vor allem im Jahr 1944 mussten sie jeden Tag mitansehen, wie der Reihe nach Menschenzüge an ihnen vorbei in Richtung Gaskammer getrieben wurden. Ihnen muss es wie eine unendliche, niemals aufhörende Zahl erschienen sein.
Die Schrecken und die Grausamkeiten des Holocausts kann man sich nicht wirklich vorstellen. Können Gedenkstätten, Filme oder etwa Bücher überhaupt begreifbar machen, was in den Konzentrationslagern geschehen ist?
Ich denke, das ist jeden Versuch wert. Man sollte Auschwitz nicht überhöhen. Alles, was dort geschehen ist, haben Menschen erdacht und gemacht. Und weil wir Menschen sind, müssen wir uns auch vorstellen können, was Menschen getan haben. Wir müssen es aber auch wollen. Es gibt nicht mehr viele Zeitzeugen, die aus erster Hand berichten können, was sie erlebt haben. Deshalb ist es die Aufgabe der jüngeren Generation, ihre Geschichten weiterzuerzählen, den Opfern Gesichter zu geben – in Filmen, in Büchern oder in Medien, die noch kommen mögen. Darauf bauen die Überlebenden.
Es gibt Stimmen, die sagen, es werde zu viel über Auschwitz und den Völkermord an den Juden geredet. Die Ereignisse seien lange her, es sei Zeit für einen Schlussstrich. Können Sie die Argumente nachvollziehen?
Nein. Es gibt Populisten und Rechtsextreme, die so argumentieren, um politisch davon zu profitieren. Sie glauben, die Deutschen von ihrer historischen Schuld befreien zu müssen – das ist zynisch, würdelos und verachtenswert. Eine patriotische Leistung wäre es, die Schmerzen der eigenen Geschichte gerade nicht zu scheuen. Der Satz „Es muss doch endlich mal Schluss sein“ reicht übrigens zurück bis in die 1950er Jahre. Auch damals wollten viele nichts von den Schrecken in den Lagern wissen – zu einer Zeit, in der noch nicht einmal damit angefangen wurde, die Ereignisse aufzuarbeiten.
Es lässt sich ein neu aufkeimender Antisemitismus, also Judenhass, in Deutschland beobachten. Denken wir etwa zurück an den Anschlag von Halle, bei dem ein Terrorist versucht hat, eine Synagoge zu stürmen. Gibt es in Deutschland wieder Grund zur Sorge?
Ja, den gibt es. Die Diskussionen nach Halle zeigen das sehr deutlich. Zuerst sprach man von einem Einzeltäter. Und erst später hat man begriffen, dass das nicht ohne Weiteres stimmte. Der Mann war aktiv im Netz, tauschte sich mit anderen aus, ließ sich von Hass und Hetze aufputschen und war möglicherweise irgendwann sogar der Meinung, dass eine Mehrheit es gut findet, was er vorhat. Dieser Hass im Internet ist eine enorme Gefahr. Und der Gesetzgeber muss unbedingt dafür sorgen, dass Verbrechen im Netz unterbunden und auch bestraft werden. Die Gesetze der analogen Welt müssen auch im Internet gelten. Aber auch wir als Zivilgesellschaft – und ich hoffe sehr, dass wir 80 Prozent und mehr sind – haben die Aufgabe, diesen Leuten im Netz die Stirn zu bieten.
Über Christoph Heubner
Christoph Heubner (70) ist Schriftsteller und Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees. Seine Bücher befassen sich unter anderem mit den persönlichen Geschichten jener, die in den KZs ermordet wurden. Heubner war es auch, der im Sommer 2018 die Rapper Kollegah und Farid Bang durch die KZ-Gedenkstätte führte. Gegen die Musiker gab es heftige Vorwürfe, einer ihrer Songs würde die NS-Opfer verhöhnen.
Über das Internationale Auschwitz-Komitee
Das Internationale Auschwitz-Komitee (IAK) ist die Interessensvertretung der Auschwitz-Überlebenden. Es setzt sich dafür ein, dass niemals vergessen wird, was in den Lagern der Nazis geschehen ist. Ein Schwerpunkt der Arbeit des IAK liegt in Projekten für Jugendliche gegen Rassismus und Antisemitismus. Das IAK wurde 1952 von Überlebenden des Lagers gegründet. Sein derzeitiger Präsident ist Roman Kent, auch er wurde als Jugendlicher nach Auschwitz deportiert.