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Interview zu Erinnerungskultur „Die Erinnerung wandelt sich mit den wechselnden Generationen“

Carolin Hasse

Elżbieta Pasternak und Stanisława Piotrowska arbeiten in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Auschwitz. In Interview berichten sie über ihre Arbeit mit jungen Erwachsenen und darüber, wie sich die Erinnerungskultur verändert.

Eine Collage zeigt zwei Porträts von Frauen, die in die Kamera lächeln.

Elżbieta Pasternak (links) und Stanisława Piotrowska (rechts) arbeiten als Bildungsreferentinnen in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Auschwitz. © IJBS

Wie erleben Sie persönlich die Arbeit an einem Ort mit einer so belasteten Geschichte?

Elżbieta Pasternak: Ich bin in Oświęcim geboren und aufgewachsen. Zum ersten Mal habe ich Auschwitz mit meiner Klasse im Alter von 15 Jahren besucht. Das Ausmaß der Gewalt und die ausgestellten Artefakte haben mich schockiert. Jetzt, nach so vielen Jahren der Arbeit in der IJBS und als Museums-Guide, gehe ich rationaler an Auschwitz heran. Ich versuche den jungen Menschen all das zu vermitteln, was ich von Überlebenden in Gesprächen gehört habe, in denen sie von den vielen Menschen berichteten, die es nicht geschafft haben zu überleben, wie versucht wurde, ihre Würde zu zerstören, und wie schwierig es für sie war, ihr Leben nach dem Krieg wiederaufzubauen. So ist meine Arbeit in gewisser Weise eine Verpflichtung gegenüber den Überlebenden, die ihre Geschichte nicht mehr selbst erzählen können.

Die Internationale Jugendbegegnungsstätte in Oświęcim/Auschwitz (IJBS) ist eine außerschulische Bildungseinrichtung, die von der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e. V. und der Stadt Oświęcim mit Unterstützung ehemaliger Häftlinge des Konzentrationslagers Auschwitz im Jahr 1986 gegründet wurde. Die IJBS setzt sich auf der Grundlage historischer Fakten für die Aufrechterhaltung des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust ein.

Gibt es eine Begegnung, die Sie in Ihrer Arbeit besonders berührt hat?

Elżbieta Pasternak: Meine Sicht auf Auschwitz und die Menschheit wurde weitgehend von Überlebenden geprägt. Die Person, die mir am nächsten stand, war Zofia Posmysz, und wir haben viel Zeit miteinander verbracht, bei den Gesprächen mit jungen Menschen und auch privat. Sie wurde 1942 inhaftiert, weil sie am geheimen Unterricht teilnahm und Flugblätter verteilte, und wurde als politische Gefangene mit der Nummer 7566 in Auschwitz registriert. Sie überlebte dort bis zum letzten Appell, dann kamen noch KL Ravensbrück und KL Neustadt Glewe. Wenn ich jetzt, nach ihrem Tod im Jahr 2022, Gruppen durch das Frauenlager in Birkenau führe, spüre ich ihre Anwesenheit und ihre geistige Unterstützung, auch während meiner Arbeit hier in der IJBS. Es war eine besondere Ehre für mich, Zofia Posmysz zu treffen und mit ihr zu arbeiten.

Welche Herausforderungen begegnen Ihnen bei der Vermittlung der Geschichte des Holocaust an junge Menschen?

Elżbieta Pasternak: Die Erinnerung an den Nationalsozialismus, an Auschwitz und den Holocaust wandelt sich mit den wechselnden Generationen. Ich habe den Eindruck, dass das Thema in den 1990er und 2000er Jahren aufgrund der Anwesenheit von Überlebenden mit großer Ernsthaftigkeit behandelt wurde und in Familiengesprächen, in der Schule, in der öffentlichen Debatte präsent war. Jetzt, 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, im Zeitalter von Social Media mit ihrer missverstandenen Meinungsfreiheit und den Fake News, müssen wir vor allem die Wahrheit über Auschwitz und den Holocaust schützen. Junge Menschen verstehen die Begriffe aus der Zeit des Nationalsozialismus oft nicht, es ist wie eine Fremdsprache für sie.

Wie reagieren Jugendliche auf den Besuch und die Themen, die hier behandelt werden?

Stanisława Piotrowska: Gruppen von Jugendlichen kommen in Begleitung von Lehrerinnen und Lehrern oder Personen, die in verschiedenen Einrichtungen der Jugendarbeit tätig sind in die IJBS. Etwas provokant frage ich diejenigen, mit denen ich mich unterhalten kann, ob es schwierig war, Leute zu finden, die bereit waren, nach Auschwitz zu kommen. Meistens bekomme ich die Antwort, dass es mehr Bewerber als Plätze gab. Das zeigt auch, dass die Jugendlichen ganz genau wissen, wo sie hinfahren. Einige Gruppen sind sehr gut vorbereitet, andere fangen gerade erst an, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Für die einen wie die anderen vertieft die visuelle Erfahrung und die Realität des Ortes ihr Interesse, und gleichzeitig kommt es zu einer hohen emotionalen Beteiligung. Mit Emotionen meine ich die Art von Erfahrung, die zum Nachdenken über die Vergangenheit und die Gegenwart anregt.

Bei den Nachbereitungstreffen frage ich die Jugendlichen, ob es für sie wichtig ist, persönlich nach Auschwitz zu kommen, ob es nicht ausreicht, die Geschichte in der Schule zu lernen. Die Antwort, die immer gegeben wird, ist, dass man in der authentischen Gedenkstätte die Erfahrung machen kann, dass dies der Ort ist, an dem die Ereignisse wirklich stattgefunden haben, und dass die Erfahrung etwas anderes ist, als das Wissen darüber zu erlangen.

Ist es schon einmal vorgekommen, dass Teilnehmende unangemessen reagiert haben?

Stanisława Piotrowska: Ich habe persönlich keine „unangemessenen“ Reaktionen erlebt. Die IJBS ist ein Ort, an dem solche Fragen frei gestellt werden können und wir gemeinsam nach Antworten suchen können. Wenn ein junger Mensch Zweifel hat und wir ihm nicht erlauben, sie zu äußern, wird es zwangsläufig jemanden geben, der dies ausnutzen will, und dann sind wir nicht sicher, welche Antworten er bekommt und ob sie nicht aus einer „alternativen Realität“ stammen.

In diesem Jahr wird der 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz gefeiert. Wie hat sich Ihre Arbeit in den vergangenen Jahren verändert?

Elżbieta Pasternak: Auschwitz und der Holocaust werden in unserer Arbeit hier in der IJBS in einem historischen und gegenwärtigen Kontext behandelt. Junge Menschen beobachten das aktuelle Weltgeschehen und versuchen die Verbrechen des Nationalsozialismus aus dieser Sicht zu interpretieren. Sie sehen die Zahlen der Opfer der Kriege und Konflikte in Syrien, im Nahen Osten, in der Ukraine und fragen sich, was sie tun können, um die Welt zu verbessern. Im Angesicht des wachsenden Radikalismus sind es neue und schwierige Herausforderungen für die jungen Menschen, sich mutig auf die Seite der Wahrheit, der Menschenrechte und der Demokratie zu stellen. Neben der Vermittlung historischer Fakten ist es daher auch genauso wichtig, diese Einstellung bei jungen Menschen zu fördern.

Eine Glaswand mit einer weißen Aufschrift.

Die Internationale Jugendbegegnungsstätte (IJBS) setzt sich auf der Grundlage historischer Fakten für die Aufrechterhaltung des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust ein. © DBT/Stella von Saldern

Warum ist Ihre Arbeit nach wie vor wichtig?

Stanisława Piotrowska: Jahre bevor Aleida Assmann feststellte, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus „weder der ethischen Verjährung noch der historischen Distanz unterliegen und einen festen Platz im historischen Gedächtnis haben müssen“, wurde diese Wahrheit von ehemaligen Häftlingen von Auschwitz weitergegeben - von den wenigen, die diese Hölle überlebt haben. Viele von ihnen trugen zur Gründung der IJBS bei und waren unermüdliche Zeugen für die nächste Generation, die nach einer Zukunft ohne die Fehler der Vergangenheit rief. Heute, da wir uns von den letzten von ihnen verabschieden, sind wir, die wir ihnen persönlich oder indirekt begegnet sind, verpflichtet, ihren Willen zu erfüllen. Wir setzen uns sowohl intellektuelle als auch moralische Bildungsziele. Die Aufgabe der IJBS besteht darin, junge Menschen auf ein engagiertes Vorgehen gegen Rassismus, Antisemitismus und andere Formen der Ausgrenzung vorzubereiten und in ihnen eine Haltung für die mutige Verteidigung von Bürger- und Menschenrechten, Frieden, Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit zu stärken.

Inwiefern muss sich die Erinnerungskultur verändern, um zeitgemäß zu bleiben und weiterhin Menschen zu erreichen?

Stanisława Piotrowska: Die gegenwärtigen Entwicklungen im Zusammenhang mit den neuen Medien, den Kommunikationstechnologien und der Globalisierung verändern die Art und Weise, wie die Vergangenheit erlebt wird, verkürzen den Zeithorizont und werden sich auf die Erinnerungskultur auswirken oder haben dies bereits getan. Aber die Auseinandersetzung mit der Geschichte von Orten wie Auschwitz braucht Zeit. Er erfordert großes Einfühlungsvermögen seitens der Pädagoginnen und Pädagogen, die in den Gedenkstätten arbeiten, gegenüber jedem jungen Menschen, der sich oft zum ersten Mal so tief mit Fragen des Lebens und des Todes auseinandersetzt. Es ist wichtig, für die drei Phasen – Vorbereitung, Aufenthalt und Auswertung des Gedenkstättenbesuchs – genügend Zeit einzuplanen.

Die neuen Technologien sind dabei sehr hilfreich und finden zunehmend Eingang in unsere Arbeit. Aber sie sind kein Ersatz für die individuelle und zutiefst authentische Begleitung der nächsten Generation junger Menschen im Prozess der Holocaust-Bildung, deren Ziel es ist, aus der Geschichte für die Gegenwart und die Zukunft zu lernen.

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