Blog Tag 4 Der Nachhall des Schreckens
Carolin Hasse
Auch wenn die Teilnehmenden wussten, was sie beim Besuch der Gedenkstätte Auschwitz erwartet, sind sie dennoch von den Ausstellungsstücken und den Geschichten, die sie erzählen, schockiert.
Kurz nach dem Frühstück steigen wir in unseren blauen Doppeldeckerbus, der uns zur Gedenkstätte Auschwitz bringt. Als wir ankommen, sehen wir bereits die lange Reihe von Reisebussen, die dicht nebeneinander parken. Vor dem Eingang tummeln sich Menschen aus aller Welt. Englisch, Spanisch und Deutsch sind nur ein paar der Sprachen, die ich im Vorbeigehen höre. Nach einer Sicherheitskontrolle – tatsächlich fast wie am Flughafen – treffen wir unsere heutige Guide: Lucyna Filip.
Lucyna Filip wurde in Oświęcim geboren und arbeitet seit vielen Jahren in der Gedenkstätte. Sie wird uns durch den Tag begleiten, unsere Fragen beantworten und die Geschichte dieses Ortes lebendig machen. Unser Rundgang beginnt an einer großen, rostfarbenen Schiebetür, die sich öffnet, als wir uns nähern. Dahinter liegt ein Gang, gesäumt von grauen Betonwänden, die den Blick auf das Gelände verstellen. Über uns öffnet sich ein schmaler Streifen Himmel, durchbrochen von Baumkronen kahler Birken.
Die grausame Geschichte von Auschwitz
Über Lautsprecher hallt eine tiefe Männerstimme, die die Namen der Opfer von Auschwitz vorliest. Die Liste scheint unendlich. Unser erster Halt führt uns zu dem weltberühmten Tor mit der zynischen Aufschrift: „Arbeit macht frei.“ Dahinter erstreckt sich das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers, eingezäunt von doppeltem Stacheldraht, der früher unter Hochspannung stand.
Dann beginnt Filip zu erzählen – über das Lager, seine Geschichte und die unfassbaren Verbrechen, die hier geschahen. Im Jahr 1940 richteten die Deutschen Auschwitz zunächst als Gefängnis für politische Häftlinge ein. Doch ab Sommer 1942 wandelten sie es zum zentralen Ort der „Endlösung der Judenfrage“ um. Sie erweiterten das Lager und errichteten die ersten Gaskammern. Neben Juden ermordeten die Nationalsozialisten dort auch Sinti und Roma, Kommunisten und Homosexuelle. Filip erklärt, dass etwa 80 Prozent der Deportierten direkt nach ihrer Ankunft ermordet wurden. Die übrigen 20 Prozent mussten Zwangsarbeit leisten – sie bauten neue Krematorien oder räumten die Leichen aus den Gaskammern. Doch auch sie überlebten oft nur wenige Wochen oder Monate, bevor Hunger oder die grausamen Arbeitsbedingungen sie das Leben kosteten. Von 1940 bis 1945 starben in Auschwitz etwa 1,1 Millionen Menschen.
„Man kennt die Zahlen, aber dahinter stehen Schicksale – von Frauen, Männern und Kindern“, erinnert Filip. Diese Schicksale werden durch die Exponate in der Ausstellung etwas greifbarer: ein Berg von etwa 80.000 Schuhen, die hinter einer Glasscheibe liegen – rot, schwarz, gelb, kleine Kinderschuhe, schwere Stiefel. In einem weiteren Raum türmen sich 40 Kilogramm Brillen auf. Hinter einer anderen Scheibe sehen wir einen Container mit rund 12.000 Kochtöpfen und Haushaltsgegenständen. Am meisten erschüttert mich jedoch die Vitrine mit zwei Tonnen Menschenhaar.
Filip erklärt, dass den Gefangenen alle persönlichen Gegenstände abgenommen wurden – ihr Haar wurde abrasiert und für 50 Pfennige pro Kilo an Textilfirmen verkauft. Obwohl ich wusste, was mich erwarten wird, schockieren mich diese Ausstellungsstücke – vielen Teilnehmenden der Jugendbegegnung geht es ähnlich.
Bedrückend und überwältigend
Am Ende des Vormittags betreten wir ein ehemaliges Krematorium. Die bunkerartige Atmosphäre des Gebäudes ist bedrückend. Filip weist uns darauf hin, dass nur wenige Meter von uns entfernt das frühere Wohnhaus von Rudolf Höß, dem Kommandanten von Auschwitz, steht. Es ist ein großes Haus mit Garten – von dessen Fenstern aus Höß vermutlich direkt auf das Krematorium blicken konnte. Bei dem Gedanken schüttelt es mich und ich denke an den Film „The Zone of Interest“, der das Leben von Höß und seiner Familie thematisiert. Es ist eine erschütternde Darstellung eines „Familienidylls“ direkt neben den Verbrechen des Holocaust.
Später am Tag führt uns Filip noch nach Auschwitz-Birkenau. Dieses Lager wurde ab 1942 zum zentralen Deportationsziel für Juden aus ganz Europa. Durch die langsam untergehende Sonne färbt sich der Himmel in ein sattes Rosa. Der Anblick ist viel zu schön, für einen so schrecklichen Ort, denke ich. Obwohl die Sonne noch nicht vollständig verschwunden ist, herrscht in einer der Baracken, die wir betreten, beinahe völlige Dunkelheit. Mit den Taschenlampen unserer Handys leuchten wir die Wände ab und entdecken Zeichnungen, die für die Kinder im Lager von anderen Häftlingen gemalt wurden. Eine Zeichnung zeigt eine Schule – einen Ort, den die meisten Kinder hier wohl nie wieder betreten konnten. Auf der Wand gegenüber ist ein buntes Bild von Spielzeugen – Spielzeuge, die den Kindern im Lager fremd geblieben sein müssen.
Die Eindrücke sind überwältigend. Als unser Rundgang endet, bedankt sich Filip bei uns für unseren Besuch. „Es ist wichtig, an diesem Ort zu sein und Fragen zu stellen“, sagt sie, damit sich die Geschichte nicht wiederholt. Ihre Worte hallen nach, während wir zum Bus zurückkehren.
Die Nacht wird uns Zeit geben, über all das Erlebte nachzudenken. Morgen geht unser Programm weiter – doch der heutige Tag wird uns sicher noch lange begleiten.
Wir lesen uns morgen wieder.
Liebe Grüße,
Carolin