Fabrikant Zwischen Bürsten und Besen
Lisa Brüßler
Otto Weidt war in der Nazi-Zeit Bürstenfabrikant. Er beschäftigte und versteckte von 1940 bis 1945 viele Juden in seiner Blindenwerkstatt. Eine Geschichte über Mut und Menschlichkeit.
Sichere Insel
In der Rosenthaler Straße 39, direkt neben den Hackeschen Höfen in Berlin, vorbei an den bei Touristen beliebten Graffitis und Lampions, liegt die "Blindenwerkstatt Otto Weidt". Nur ein aufmerksam Vorbeigehender bemerkt die etwas verblasste Gusstafel am Eingang zum Häuserkomplex, die knapp beschreibt, dass Otto Weidt jüdischen Verfolgten eine Arbeit, Schutz und ein Stück Menschlichkeit gab. Die Werkstatt des Bürstenherstellers galt 1941 bei Berliner Juden, die Zwangsarbeit leisten mussten, als gute Adresse inmitten eines Milieus, das ansonsten von Kleinkriminalität und Polizeipräsenz geprägt war.
Wer war Otto Weidt?
Bürsten und Besen waren damals ein seltenes Gut. Sie eigneten sich daher hervorragend als Tauschware und auch der Schwarzhandel boomte. Aber nicht nur zu Unternehmern pflegte Weidt exzellente Kontakte, sondern auch zur Gestapo, die Geheime Staatspolizei zur Zeit des Nationalsozialismus. Regelmäßige Bestechungen sorgten für Spielraum, seine jüdischen Angestellten zu schützen.
Als Unternehmer schaffte er es, den Betrieb als "wehrwichtig" erklären zu lassen. "Er produzierte also hauptsächlich für die Wehrmacht, von der er sich hohe Aufträge geben ließ und dann über fehlendes Material und die angeblich faulen Arbeiter jammerte", erzählt Dr. Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand zu der die Blindenwerkstatt Otto Weidt seit 2005 gehört, über den fantasievollen Kleinfabrikanten.
Lügen und Ausreden
Immer eine Lüge oder Ausrede parat, vermittelte der gebürtige Rostocker nicht nur Jobs an Juden, sondern versteckte sie auch in angemieteten Lokalitäten und versorgte sie mit falschen Papieren und Lebensmitteln. Drei seiner vom Arbeitsamt vermittelten Juden beschäftigte er – illegaler Weise – sogar im Büro.
Ein Netzwerk aus Helfern aus der Gegend hatte sich um ihn gebildet, dazu zählten etwa die Prostituierte Hedwig Porschütz, die Juden in ihrer Wohnung versteckte, aber auch ein Arzt und ein Druckereibesitzer. Dies ermöglichte es ihm auch, verdeckt mindestens 150 Lebensmittelpakete an seine ehemaligen Mitarbeiter zu schicken, die in das Ghetto Theresienstadt deportiert worden waren.
Die Werkstatt
Heute gibt es kaum mehr eine Spur von dem Helferkreis im In-Viertel Hackescher Markt voller Cafés und Kultur. Doch wenn man die knarzende Holztreppe durch das dunkle Treppenhaus in den Seitenflügel des Hauses mit der unscheinbaren Gedenktafel hinaufgeht, bekommt man eine Ahnung, was sich hier früher abspielte. Im ersten Stock lag Weidts Werkstatt, die für mehr als 30 sehbehinderte und hörgeschädigte Juden Zufluchtsort war.
Warum Weidt, der selbst stark sehbehindert war, sich für Juden einsetzte, weiß niemand genau. Er selbst würde seine Werkstatt heute sicherlich noch wiedererkennen, denn bis auf die Instandsetzungsarbeiten ist hier alles im Originalzustand. 1998 fanden Studenten der Museumskunde per Zufall die Räumlichkeiten. Damals noch voll von Schutt und mit einem freien Blick in den Himmel.
Die Geheimtür
An den Wänden des heutigen Museums, das wenig museal wirkt, hängen schwarz-weiß Bilder seiner Belegschaft. Ein paar alte Maschinen, Tische, die Original-Kachelöfen, Postkarten und Briefe, eine Schuhbürste – es sind nicht wie üblich die Gegenstände, sondern die Räume selbst, die die Geschichte des Ortes erzählen. Die Wände in unterschiedlichen Farben, die knarrenden Dielen, der bröckelnde Putz – alles ist so geblieben wie es war.
Ganz am Ende der Werkstatt ist eine symbolisch nachgebaute Geheimtür zu sehen. Sie soll den Einstieg in das Versteck illustrieren, einen hohen Schrank, hinter dem die jüdische Familie Horn 1943 über ein halbes Jahr von Weidt versteckt wurde. Immer wenn sich Gefahr näherte, verschwand die vierköpfige Familie in dem zehn Quadratmeter großen Raum ohne Tageslicht.
Freiheitsliebe und Humanität
Aus den Berichten der Überlebenden ergibt sich das Bild von einem Menschen, der von Freiheitsliebe und Humanität angetrieben wurde. Die 1922 geborene Inge Deutschkron arbeitete als Sekretärin in Weidts Büro und überlebte den Krieg im Versteck. Später arbeitete sie als Journalistin und setzte sich immer wieder für das Andenken Weidts ein.
Bis Februar 1939 fertigte Weidt allein in seiner Wohnung Bürsten an. Dann bekam er die Genehmigung zur Führung des gesetzlich vorgeschriebenen Blindenwarenzeichens und konnte fremde Arbeitskräfte einstellen. Seine Arbeiter kamen aus der jüdischen Gemeinde und vom Arbeitsamt.
Ein überzeugender Schauspieler
Deutschkron beschreibt ihren ehemaligen Chef als hager und gesundheitlich weniger robust. Niemand habe gewusst, wie groß seine verbliebene Sehkraft gewesen war, erzählt sie. Bei Behördengängen legte er – wahrscheinlich aus strategischen Gründen – meist seine Blindenbinde an und nutzte einen Stock als Gehhilfe.
"Weidt war 1883 geboren und im Kaiserreich verwurzelt. Er war Pazifist, trug eine große Unbekümmertheit gegenüber dem Staat in sich und stellte grundlegende Autoritäten in Frage", erzählt Tuchel. Dies half ihm sicher dabei, zu bestechen um an Aufträge heranzukommen. "Weidt war wohl ein guter Schauspieler und argumentierte bei der Wehrmacht, dass er ja nicht deren Aufträge für Besen und Bürsten erfüllen könne, wenn man ihm seine Arbeiter wegnähme."
Alles fliegt auf
Mit der sogenannten Fabrikaktion im Februar 1943, bei der die letzten Juden aus der Zwangsarbeit in Berliner Fabriken abtransportiert wurden, wurde Weidts Wirken schwieriger. Viele von seinen Arbeitern wurden über Theresienstadt in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Seine Hilfe konzentrierte sich fortan auf Lebensmittelpakete.
Im Oktober 1943 wurde die Familie Horn von einem Spitzel verraten und aus dem Versteck in der Blindenwerkstatt gezerrt. Weidt wurde auch verhaftet, kam aber wieder frei, weil er behauptete, er habe durch seine Sehbehinderung nichts von dem Versteck gewusst. Im Dezember 1947 starb Weidt in Berlin. Sein Fall ist mittlerweile gut erforscht und dokumentiert. Wenig wissen die Forscher jedoch über den Helferkreis.
Besucher aus der ganzen Welt
Mit 83.000 Besuchern im Jahr ist das Interesse an Otto Weidt zwar groß, in Deutschland ist er aber trotzdem weitgehend unbekannt. "Wir wissen nicht, wie vielen Menschen Otto Weidt das Leben gerettet hat. Man geht von mehreren hundert aus", berichtet Leiter Tuchel. "Das zeigt auf jeden Fall die Möglichkeiten, die man damals trotz allem gehabt hat", endet er. Traut man den Berichten über Weidt als Person, dürfte es ihm unwichtig gewesen sein, als stiller Held in die Geschichte einzugehen. Er tat einfach, was getan werden musste.
Lisa Brüßler
Lisa Brüßler
arbeitet bei der Zeitung Das Parlament und beim Pressedienst heute im Bundestag.