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Vizepräsidentin Roth „Macht’s euch bitte nicht zu einfach!“

Anlässlich unseres 15. Geburtstags haben wir mit allen Vize-Präsidenten des Bundestages gesprochen. Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen) über den Sound im Parlament, Morddrohungen und die Macht einer Mücke.

Claudia Roth im Gespräch

Claudia Roth: „Streit gehört seit jeher zu einem lebhaften Parlament dazu.“ © Tim Lüddemann

mitmischen.de feiert den 15. Geburtstag, ein Grund, zurückzuschauen auf 15 Jahre Bundestag. Was hat sich verändert?

So einiges! Die Themen und Herausforderungen sind ganz andere als noch vor 15 Jahren. Auch haben wir mehr Fraktionen im Bundestag, derzeit sind es sechs. Und mehr denn je stehen alle Demokratinnen und Demokraten im Parlament vor der Aufgabe, gemeinsam den demokratischen Konsens und die Würde des Hauses zu verteidigen. Immer wieder erleben wir, wie einige versuchen, unsere demokratischen Institutionen verächtlich zu machen oder die Sprache gezielt zu entgrenzen. Wir hören Reden, in denen Minderheiten ausgegrenzt und einzelne Personen beleidigt werden. Da ist es Aufgabe aller, dem etwas entgegenzusetzen. Genau das tun wir – immer häufiger auch über alle inhaltlichen Unterschiede zwischen den einzelnen Fraktionen hinweg. Das finde ich sehr positiv.

Das Parlament ist größer geworden und hat jetzt 709 Abgeordnete. Sind das zu viele? Ist es schwieriger, mit so vielen Diskutanten eine gute Debattenkultur zu pflegen?

Je größer der Bundestag, desto schwerwiegender die Abläufe und Verfahren. Laut Wahlgesetz soll unser Parlament aus 598 Abgeordneten bestehen. Insbesondere durch Überhang- und Ausgleichsmandate liegen wir derzeit bei 709, Tendenz steigend. Das muss sich ändern. Wir brauchen dringend eine Wahlrechtsreform, die einerseits sicherstellt, dass wir nach der nächsten Wahl nicht allzu weit über 600 Abgeordneten liegen, die andererseits aber dafür sorgt, dass jede einzelne Stimme gleich viel wert ist. Keine leichte Aufgabe, aber machbar! Es liegen gute Vorschläge auf dem Tisch. Wir müssen uns nun fraktionsübergreifend einigen.

Was hat sich noch verändert im Bundestag?

Wir sind, was den Anteil von Frauen im Parlament angeht, in dieser Legislaturperiode auf den Stand von vor 1998 zurückgefallen. Auch vor 15 Jahren, als mitmischen.de geboren wurde, lag der Frauenanteil im Bundestag höher als die heutigen 30,7 Prozent. Da muss dringend etwas passieren. In Deutschland ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung weiblich. Die Gesetze aber, die sich natürlich auch auf das Leben dieser Mädchen und Frauen auswirken, werden mehrheitlich von Männern verhandelt. Das dürfen wir nicht einfach akzeptieren. In meiner Partei haben wir gute Erfahrungen damit gemacht, systematisch für eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen zu sorgen. Andere tun sich da offenkundig schwerer. Ich denke, es wäre an der Zeit, über verbindliche Paritätsregelungen auch auf Bundestagsebene nachzudenken.

Wirkt sich der geringe Frauenanteil auf die Debatten aus?

Natürlich. Der Sound ist ein ganz anderer, seitdem der Frauenanteil so niedrig ist. Ich würde niemals behaupten, der Sexismus sei je besiegt gewesen – auch nicht im Bundestag. Aber in Form von hämischen Zwischenrufen, bisweilen auch herablassenden Reden nehme ich ihn seit der letzten Wahl wieder stärker wahr im Parlament.

Wie wichtig ist politischer Streit, wie scharf darf die Kontroverse werden – und wo muss man Grenzen setzen?

Die inhaltliche Auseinandersetzung ist Grundnahrungsmittel einer lebendigen Demokratie. Streit gehört seit jeher zu einem lebhaften Parlament dazu. Da darf es auch mal rauer zugehen. Es gibt nun mal nicht „die“ Politik, auch wenn einige das immer wieder behaupten: Wir sind uns in der Regel nicht einig, ringen um Positionen, verhandeln stundenlang über Kompromisse – und das ist gut so! Aber auch Streit hat Grenzen, wenn er beispielsweise in Hass oder Hetze überzugehen droht. Und das beobachte ich immer häufiger, auch im Parlament. Die Debatte ist im Tonfall aggressiver geworden. Das sollten wir ernst nehmen, dagegenhalten, uns nicht gewöhnen. Meinungsfreiheit ist ein unglaublich hohes Gut. Meinungsfreiheit aber ist keine Rechtfertigung für Ausgrenzung und Beleidigung. Wer die Würde anderer Menschen infrage stellt, äußert keine Meinung, sondern betreibt Hetze – und sollte mit deutlichem Widerspruch rechnen müssen.

Claudia Roth im Gespräch

„Da muss dringend etwas passieren“, sagt Claudia Roth über den geringen Frauen-Anteil im Bundestag. © Tim Lüddemann

Gibt es Debatten, die Sie als besonders positiv empfunden haben?

Viele, ja. Ich erinnere mich vor allem an Debatten, in denen es beispielsweise um Organspenden oder Präimplantationsdiagnostik ging. Debatten also, die eine starke ethische Komponente hatten. Da finden sich dann oft Gruppen von Abgeordneten aus ganz unterschiedlichen Fraktionen zusammen, man hört der Gegenseite noch mal aufmerksamer zu als üblich, die Diskussionen verlaufen sehr konstruktiv. Das ist unglaublich bereichernd – und hat das Potential, Gräben in der öffentlichen Diskussion überbrücken zu helfen.

Wie nehmen Sie die Reaktionen der Bevölkerung auf das Geschehen im Parlament wahr? Hat sich da in den letzten 15 Jahren etwas verändert?

Zunächst einmal wäre da natürlich das Internet, im Guten wie im Schlechten. Gerade in den sogenannten Sozialen Medien wird einiges sehr verkürzt dargestellt, der Tonfall ist nicht immer höflich, und vermehrt kommt es auch zu gezielten Lügen-Kampagnen – die sogenannten Fake News. Mich persönlich erreichen per Mail und auf Facebook regelmäßig übelste Beleidigungen, oft auch mit Bezug auf Vorkommnisse im Bundestag, manchmal auch Morddrohungen. Ich glaube, diese Dimension haben viele unterschätzt; da haben wir einiges aufzuholen, auch gesetzgeberisch.

Aber natürlich nutzen auch immer mehr Menschen die Möglichkeit, die Bundestagsdebatten online mitzuverfolgen. Das finde ich großartig und nachvollziehbar zugleich, denn was in unserem Parlament passiert, ist echt spannend und geht jeden an. Auch beim Tag der offenen Tür kommen sehr viele Bürgerinnen und Bürger in den Bundestag, die sich für unsere Arbeit interessieren. Andere melden sich für eine der vielen Besuchergruppen an, die ganzjährig über die einzelnen Abgeordnetenbüros angeboten werden. Und immer wieder erlebe ich als Vizepräsidentin eine hohe Anerkennung für die Arbeit des Bundestagspräsidiums. Viele Menschen nehmen offenbar wahr, dass der Bundestagspräsident sowie seine Stellvertreterinnen und Stellvertreter eine wichtige Funktion in der parlamentarischen Demokratie erfüllen; dass es nicht immer leicht ist, die Sitzungen zu leiten und die Würde des Hauses zu verteidigen; dass es auch entscheidend ist, unser Parlament nach außen zu repräsentieren.

Wie kann man speziell junge Menschen für den Bundestag und die parlamentarische Demokratie begeistern?

Wir müssen vermitteln: Demokratie, das sind wir alle – und diese Demokratie ist beste Voraussetzung dafür, dass wir gemeinsam die Dinge positiv verändern. Manchmal dauern die Prozesse ganz schön lange. Mehrheiten zu finden, kann mühsam sein. Und wir alle werden immer wieder schwierige Kompromisse eingehen müssen. Aber es ist der beste Weg. Und wenn ich mir die letzten 15 Jahre so anschaue, sind da schon viele unfassbar wichtige Entscheidungen zustande gekommen, die gerade auch junge Menschen betreffen. Deutschland hat den Atomausstieg beschlossen. In Europa herrscht Frieden, seit über siebzig Jahren. Nach jahrzehntelangem Kampf gibt es endlich die Ehe für alle. Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen.

Vor diesem Hintergrund macht es Mut, zu sehen, wie viele junge Menschen sich einbringen, Parteien beitreten und auf die Straße gehen, um ihr Recht auf Zukunft einzufordern. Gerade mit Blick auf die Klimakrise ist es an uns Politikerinnen und Politikern, endlich zu liefern – und dafür Sorge zu tragen, dass auch junge Menschen in Deutschland dieses Haus als ihres empfinden. Das wäre mein herzlichster Wunsch als Vizepräsidentin.

Was sagen Sie jungen Leuten, die sagen, das interessiert mich alles nicht, ich habe sowieso keinen Einfluss, die machen in Berlin ohnehin was sie wollen?

Ich sage: Macht’s euch bitte nicht zu einfach! „Die“ machen nicht, was sie wollen. Sondern „die“ gehören unterschiedlichen Parteien an, haben unterschiedliche Positionen, setzen unterschiedliche Schwerpunkte. Natürlich macht es da einen Unterschied, wer im Parlament sitzt.

Umgekehrt kann es ganz schön schief gehen, nicht wählen zu gehen. Schauen wir uns nur das Brexit-Chaos in Großbritannien an! Da waren die älteren Generationen mehrheitlich für den Ausstieg aus der Europäischen Union, die jüngeren eindeutig dagegen. Wer weiß, wie die sehr knappe Entscheidung ausgegangen wäre, wenn nicht so viele Jugendliche am Tag des Referendums zuhause geblieben wären? Deshalb, noch mal: In einer Demokratie können wir alle Einfluss nehmen, jede Stimme zählt. Und wie sagte schon der Dalai Lama? „Falls du glaubst, dass du zu klein bist, um etwas zu bewirken, dann versuche mal zu schlafen, wenn eine Mücke im Raum ist.“ Also: Mischt euch ein, stellt Forderungen, seid wie die Mücke – und geht wählen.

Aber junge Leute unter 18 dürfen noch gar nicht wählen...

Das lässt sich ja vielleicht ändern! Meine Partei jedenfalls setzt sich seit langem dafür ein, das Wahlalter auf 16 Jahre abzusenken. Ohnehin: Wenn ich mir ansehe, welche Verantwortung derzeit auch Jugendliche unter 18 Jahren übernehmen, beeindruckt mich das sehr. Zugleich sind Wahlen natürlich nicht die einzige Möglichkeit, Einfluss zu nehmen. Demokratie, das sind auch Demonstrationen, zivilgesellschaftliche Arbeit, Parteien. Da ist für jede und jeden was dabei.

Wichtig ist letztlich diese eine Erkenntnis: Demokratie ist unser aller Verantwortung! Sie gehört nicht den Erwachsenen allein. Demokratie lebt von der Teilhabe aller – und somit auch von eurem Einsatz, von eurer Streitbarkeit. Vor allem aber: Demokratie ist unendlich wertvoll. So viele Menschen auf der Welt kämpfen tagtäglich um ihr Recht, an Wahlen teilzunehmen, ihre Meinung frei zu äußern, Demonstrationen organisieren zu dürfen. Was für uns wie selbstverständlich wirkt, ist es bei Weitem nicht. Verstehen wir also Demokratie als lebendige Aufgabe an jede und jeden Einzelnen von uns. Und verteidigen wir sie gegen alle, die sie infrage stellen!

Über Claudia Roth

Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen), 64, war Dramaturgin und Musik-Managerin, bevor sie hauptberuflich in die Politik ging. Seit 1989 ist sie Abgeordnete, seit 2013 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags. Außerdem ist sie Mitglied des Ältestenrates. Mehr erfahrt ihr auf ihrem Bundestagsprofil.

(jk)

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