Interview „Jugendliche müssen mehr beteiligt werden“
Als neuer Chef der Kinderkommission – kurz Kiko – erklärt Norbert Müller (Die Linke), warum Jugendliche seiner Meinung nach in der Corona-Krise viel mehr zu sagen haben sollten.
Sie haben gerade den Kiko-Vorsitz übernommen. Welche Schwerpunkte wollen Sie in den nächsten Monaten setzen?
Eigentlich wollten wir uns damit beschäftigen, dass Jugendlichen ihre Zeit immer mehr genommen wird. Weil Schule immer übergriffiger wird im Alltag, weil alles beschleunigt wird und weniger Zeit für Freizeit und freie Entwicklung bleibt – obwohl das ein Kinderrecht ist.
Und wir wollten über Jugendarmut reden. Gerade unter Jugendlichen, die bei ihren Eltern ausziehen, um zum Beispiel eine Ausbildung anzufangen, sind sehr viele Arme. Das sollte ein großes Thema werden.
Aber dann kam Corona. Und da war klar: Im Kontext der Pandemie gibt es ganz aktuelle Themen, über die wir unbedingt reden müssen. Insofern hat sich der Schwerpunkt ein bisschen verschoben.
Wurden die Belange von Kindern und Jugendlichen in der Corona-Krise genug berücksichtigt?
Nein, das ist sicher nicht genug geschehen – deshalb wollen wir ja darüber reden. Zum Beispiel wollen wir schauen, was im Bereich Kita, Schule und in der Jugendhilfe in der Corona-Zeit passiert ist, wie sich das auf die Rechte von Kindern und Jugendlichen ausgewirkt hat.
Dazu hatten wir bereits die ersten Anhörungen mit Experten, die sehr eindrucksvoll geschildert haben, wie uns dieses Jahr im Hinblick auf die Kinderrechte zurückgeworfen hat.
Im Krisenstab der Bundesregierung war zum Beispiel zu keinem Zeitpunkt die Familienministerin einbezogen. Warum nicht, wo doch Kinder und Jugendliche die Gruppe sind, die man am meisten aus dem gesellschaftlichen Leben rausgedrängt hat?
Kinder und Jugendliche wurden auch vor Ort viel zu wenig beteiligt, wenn es um die Frage ging, wie man den Infektionsschutz am besten umsetzt. Da wären mit Sicherheit gute Vorschläge gekommen.
Wenn Sie sich mit solchen Themen beschäftigen, wie arbeiten Sie als Kiko dann ganz konkret? Und was ist Ihre Aufgabe als Vorsitzender?
Die Kiko unterscheidet sich etwas von den Ausschüssen und anderen Gremien im Bundestag. Wir sind sechs Abgeordnete, von jeder Fraktion einer. In den Ausschüssen entscheidet ja die Fraktionsgröße über die Zahl der Mitglieder und den Vorsitz. Wir haben in der Kiko einen rotierenden Vorsitz, jeder ist mal dran.
Wer den Vorsitz hat, bereitet die Sitzungen vor, schlägt Expertinnen und Experten vor für die Anhörungen und eben auch den Themen-Schwerpunkt für die Dauer des Vorsitzes.
Für Entscheidungen brauchen wir eine Mehrheit von zwei Dritteln, also vier von sechs Stimmen. Das zwingt uns, uns so zu besprechen, dass wir im Kern eine gemeinsame Position finden – über das Spektrum von Linke bis CDU/CSU hinweg.
Das ist eine hohe Kunst, aber es ist auch schön, weil das Argument im Fokus steht. Man muss gut argumentieren und versuchen, die anderen zu überzeugen. Das macht total Spaß. Im Plenum ist das Spiel zwischen Koalition und Opposition ja oft sehr routiniert – das ist in der Kiko wirklich anders.
Sie sind schon rund sieben Jahre dabei. Was hat die Kiko in dieser Zeit erreicht?
Wir greifen ja nicht in die Gesetzgebungsverfahren ein. Aber wir geben Stellungnahmen ab. Und die entfalten eben aufgrund unserer besonderen Mehrheitsverhältnisse auch eine gewisse Wirkung. Weil die anderen Abgeordneten wissen, dass hinter unseren Stellungnahmen große Einigkeit steckt, schaffen wir es, Debatten anzustoßen.
Zum Beispiel haben wir die Frage aufgeworfen, warum es immer mehr minderjährige Soldaten bei der Bundeswehr gibt, die auch schon an der Waffe ausgebildet werden. Und ob es gut ist, dass die Bundeswehr an der Schule, zum Teil sogar schon in Kitas, präsent ist.
Im letzten Jahr haben wir als Kiko die Bundesregierung angeschrieben und sie darum gebeten, eine Lösung für die minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge zu finden, die in dem jetzt abgebrannten Lager in Moria auf der Insel Lesbos in Griechenland leben. Wir haben uns dafür stark gemacht, dass Deutschland sich dafür einsetzt, diese damals 4.000 Jugendlichen in Europa zu verteilen. Das sind schon starke Signale, wenn man da gemeinsam auftritt, mit einer gemeinsamen Haltung über die Fraktionen hinweg.
Sie sind nicht nur Mitglied des Familienausschusses und der Kiko im Bundestag, Sie sitzen zum Beispiel auch im Vorstand des Deutschen Kinderhilfswerks. Warum sind Ihnen die Interessen von Kindern und Jugendlichen so wichtig?
Wir leben in einer repräsentativen Demokratie. Die meiste volljährigen Bürgerinnen und Bürger können ihre Rechte selbst in die Hand nehmen: Sie können wählen, selbst als Politikerinnen und Politiker kandidieren, Volksbegehren anstoßen und so weiter. Für Kinder und Jugendliche ist das nicht so einfach. Sie sind von diesen Teilhabeprozessen ausgeschlossen.
Wir als Linke würden das gerne ändern, wir würden das Wahlalter gerne absenken, damit mehr junge Menschen wählen gehen können. Aber die Realität ist im Moment eine andere. Kinder und Jugendliche sind eine Gruppe, die in gesellschaftlichen Debatten schnell hinten runterfällt. Deshalb ist mein Hautpanliegen, sie in ihren Rechten zu stärken. Damit sie selbst mehr Dinge in die Hand nehmen können und damit sichergestellt ist, dass die Erwachsenen, die für sie entscheiden, sie vorher auch anhören.
Ich finde, in einer demokratischen Gesellschaft müssen Kinder und Jugendliche eine deutlich lautere Stimme haben und mehr beteiligt werden. Das ist mir wichtig.
Über Norbert Müller
Norbert Müller, 34, lebt in Potsdam und studiert dort Geschichte/Lebenskunde, Ethik und Religion. Seit November 2014 sitzt er für Die Linke im Deutschen Bundestag. Er ist aktuell Vorsitzender der Kinderkommission sowie Obmann im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Mehr erfahrt ihr auf seinem Profil auf bundestag.de.
(jk)