Statistik-Profi „Erkenntnisgewinn ist etwas Schönes“
Zahlen können helfen, komplexe Themen zu verstehen. Sie können aber auch in die Irre führen. Statistik-Professor Walter Krämer über Corona-Todesraten, Denkfehler in renommierten Zeitungen und seine liebsten „Unstatistiken“.
Seit dem Ausbruch der Corona-Krise kursieren täglich neue Zahlen im Internet. Helfen Statistiken uns in unsicheren Zeiten, weil sie uns etwas Halt geben?
Ich denke schon. Man kann damit so viele Fragen beantworten. Wenn ich mal an die Altersgruppe der mitmischen-Nutzer denke: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ihr euch irgendwann ansteckt? Da sagen seriöse Wissenschaftler: Über 50 Prozent. Wenn ihr infiziert seid, wie viele Leute werdet ihr dann im Durchschnitt selber anstecken? Ungefähr zwei. Und die wichtigste Frage: Wie wahrscheinlich ist es, dass ihr daran sterbt? Die Wahrscheinlichkeit liegt für Kinder und Jugendliche bei nahe null Prozent.
Bei welchen Zahlen und Schlussfolgerungen sollte man vielleicht etwas vorsichtiger sein?
Bei den Todesraten zum Beispiel. Wenn irgendwo steht „So und so viel Prozent sind an Corona gestorben“, dann bitte auf den Nenner sehen. Die Zahl der Todesfälle – der Zähler also – lässt sich gut erfassen. Aber durch welche Größe teilt man das? Korrekt wäre die Anzahl aller Menschen, die sich zeitgleich mit den Verstorbenen auch angesteckt haben. Stattdessen teilt man die Zahl der Verstorbenen oft durch die Zahl der aktuell als Corona-infiziert Gemeldeten. Dieser Nenner ist viel zu klein, da ja gar nicht alle Infizierten erfasst werden. So entstehen dann astronomische Todesraten, die mit der Wahrheit nichts zu tun haben.
Wenn Sie in der Zeitung eine Statistik lesen, was checken Sie dann ab, bevor Sie ihr glauben?
Ich gucke immer zuerst, wer die Statistik gemacht hat. Und frage mich: Hat derjenige ein Interesse an einem bestimmten Ergebnis? Wenn zum Beispiel der ADAC als Interessenvertreter der Autofahrer vermeldet „90 Prozent aller Bürger sind gegen ein Tempo-Limit auf der Autobahn“, während die Grünen behaupten „90 Prozent der Bürger sind für ein Tempo-Limit“, dann kann ich davon ausgehen, dass beide bei ihren Umfragen geschummelt haben.
Ein Sprichwort sagt: Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast. Ist das nicht ein bisschen böse – es gibt doch sicher auch vertrauenswürdige Statistiken?
Natürlich, es gibt haufenweise vertrauenswürdige Statistiken. Ich glaube, aus diesem Sprichwort spricht ein bisschen die Enttäuschung. Die Menschen denken ja mitunter, Zahlen müssten prinzipiell objektiv und vertrauenswürdig sein und sind dann frustriert, dass dies eben nicht immer der Fall ist. Bei Wörtern und Bildern haben viele Menschen von vorneherein den Verdacht, dass da irgendwas nicht stimmen könnte. Und so ist es ja auch manchmal. Man kann mit Bildern übrigens viel schlimmer lügen als mit Statistiken.
Welche Tricks gibt es denn, um Statistiken in die gewünschte Richtung zu biegen?
Nehmen wir Umfragen. Da kann man die Frage so formulieren, dass das Ergebnis in die gewünschte Richtung geht. Fragen Sie mal die Leute zur Corona-Krise: „Befürworten Sie eine Einschränkung Ihrer Persönlichkeitsrechte durch strikte Kontaktverbote?“ Und dann fragen Sie: „Befürworten Sie das Verhindern von Ansteckungen durch strikte Kontaktverbote?“ Die Ja-Anteile werden sich deutlich unterscheiden.
Bei welchen Themen schauen Sie sich Statistiken besonders kritisch an?
An erster Stelle stehen da Umwelt, Gesundheit und Armut. Jedes Jahr gibt es sogenannte Armutsberichte von verschiedenen Verbänden, danach ist jeder Achte, Siebte oder Sechste in Deutschland arm. Es wird von Jahr zu Jahr schlimmer. In Wahrheit wird es von Jahr zu Jahr besser. Man hat einfach die Armutsgrenze hochgesetzt. Seit acht Jahren publiziere ich dazu mit Kollegen regelmäßig die „Unstatistik des Monats.“
Welche Statistik hat Sie in letzter Zeit besonders erstaunt?
Besonders erstaunt hat mich eine Statistik aus unserem führenden deutschen Intellektuellen-Magazin, der Zeit. Dort stand: Zehn Prozent aller Mädchen fühlen sich in der Kita nicht wohl. Und 20 Prozent aller Jungen fühlen sich in der Kita nicht wohl. Also fühlen sich 30 Prozent aller Kinder in der Kita nicht wohl. Dass die Zeit so einen groben Mathe-Fehler nicht bemerkt, hat mich schon verblüfft.
Soviel zu Ihren liebsten „Unstatistiken“. Gibt es auch eine Statistik, die Sie besonders hilfreich fanden und über die Sie sich gefreut haben?
Ja, das ist die Zahl 99,5 Prozent. Das ist der Anteil der Menschen, die sich mit dem Corona-Virus infizieren und das unbeschadet überstehen. Und von da an auch noch immun dagegen sind. Das ist doch eine erfreuliche Botschaft.
Viele Jugendlichen finden alles, was mit Zahlen und Mathe zu tun hat, eher öde. Warum fasziniert Sie die Statistik?
Mich fasziniert erst mal die Welt, so wie sie ist. Und diese Wirklichkeit kann man mit Statistik gut erkennen. Deshalb empfehle ich allen, die wissen wollen, wie die Welt funktioniert, sich Statistiken anzuschauen. Erkenntnisgewinn ist ja immer etwas Schönes.
Über Prof. Dr. Walter Krämer
Walter Krämer, Jahrgang 1948, hat Mathematik und Wirtschaftswissenschaften studiert. Er war lange Statistik-Professor an der Universität Dortmund. Heute ist er unter anderem Vizepräsident der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und Sprecher für einen Sonderforschungsbereich der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Krämer hat über 40 Bücher veröffentlicht, unter anderem „So lügt man mit Statistik“.
(jk)