Experten-Anhörung „Die Lage im ländlichen Raum ist prekär“
Viktoria Sochor
Mehr Bus und Bahn auf dem Land – wie kann das funktionieren? Über die Zukunft des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) diskutierten Experten im Verkehrsausschuss. Ihr Fazit: Es braucht neue Ideen.
Eng getaktete Busse und S-Bahnen, E-Roller und Car-Sharing: Wer in großen Städten lebt, ist sehr mobil. In kleineren Städten und auf dem Land fahren Busse des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) dagegen eher selten – manchmal gar nur einmal am Tag. Teilweise gibt es zwar Sammeltaxen oder Bürgerbusse, jedoch stellt das eigene Auto meist das Verkehrsmittel der ersten Wahl dar.
Viele Politiker halten den ÖPNV-Ausbau in ländlichen Regionen aus mehreren Gründen für wichtig: Weniger Mobilität wird von jüngeren wie älteren Menschen als ein Verlust von Lebensqualität wahrgenommen, denn man kann einfach weniger flexibel am Leben teilnehmen. Der ÖPNV hat auch eine wesentliche Bedeutung für den Klimaschutz. Je mehr Menschen das Auto statt Bus und Bahn nutzen, desto mehr Emissionen entstehen – und die führen zur Erderwärmung, sagen ein Großteil der Wissenschaftler. Im Jahr 2018 war der Verkehrssektor für mehr als 19 Prozent der Treibhausgasemissionen Deutschlands verantwortlich.
Wie kann die Mobilität erhöht werden?
Auch im Bundestag spielt das Thema daher eine wichtige Rolle. In einer öffentlichen Anhörung unter dem Vorsitz von Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen) hat der Verkehrsausschuss kürzlich Experten zum Thema Mobilität angehört. Sachverständige aus dem Bereich Wirtschaft, Recht und Verkehr diskutierten darüber, wie das Bus- und Bahnnetz in Deutschland ausgebaut werden kann.
„Lage im ländlichen Raum ist prekär“
Einig waren sich die Experten, dass der ÖPNV auf dem Land ausgebaut werden muss. Robert Hänsch von der Verkehrsberatungsagentur Interlink berichtete, dass in vielen Regionen das Angebot nicht über den Schulverkehr hinausgehe, also nur morgens Busse zu Zeiten fahren, wenn Kinder und Jugendliche in die Schule müssen. Die „Lage im ländlichen Raum ist prekär“, resümierte er.
Wichtig sei ein verlässliches, aber auch sichtbares Angebot. „Wir brauchen einen Taktverkehr auf den relevanten starken Achsen“, sagte der Verkehrsplaner. Hänsch plädiert dafür, dass Kommunen unterstützt werden sollten. Zur Umsetzung sei aber Hilfe von Bund und Ländern erforderlich.
Digitale und analoge Angebote
Timm Fuchs vom Deutschen Städte- und Gemeindebund beschreibt die Digitalisierung als „Treiber für bessere Angebote“. Durch E-Ticketing und Sharing-Angebote könne der Verkehr verknüpft werden. Er weist jedoch auf Finanzierungprobleme hin. Die Regionalisierungsmittel, also das Geld, dass der Bund den Bundesländern jährlich zur Finanzierung des Schienenpersonennahverkehrs zur Verfügung stellt, sei unzureichend.
Jan Schilling, Geschäftsführer ÖPNV beim Verband Deutscher Verkehrsunternehmen, sah das anders. Die Lösung liegt aus seiner Sicht nicht nur in digitalen Angeboten: „Wir brauchen eine analoge Lösung für Menschen, die nicht mit dem Smartphone unterwegs sind.“
Mehr Einnahmen durch Kontrollen?
Ein weiteres Thema unter den Experten waren die Verluste von Einnahmen im ÖPNV und wie man dies verhindern kann. Durch „Schwarzfahren“ entstünden jährlich 250 Millionen Euro an Verlusten, schätzt Timm Fuchs. Hier stand die Frage im Raum, ob Kontrollsysteme wie sie in den USA üblich sind, auch in Deutschland etabliert werden sollen. Dabei werden Schranken an den Eingängen zu den Bahngleisen aufgestellt – diese kann man nur mit einem gültigen Ticket passieren.
Die Investitionskosten für ein bundesweites System würden sich auf zwei Milliarden Euro belaufen. „Ein solches System aufzubauen, stellt ein Minusgeschäft dar“, kritisiert Jan Schilling. „Wir müssen Barrieren abbauen, statt neue zu errichten.“
Mehr Personal
Eine andere Barriere sah Mira Ball von der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi: Aus ihrer Sicht braucht es mehr Personal, um den ÖPNV auszubauen. Dafür bedürfe es einer Investitionsoffensive, die den aktuellen Personalmangel beende und die Arbeitsbedingungen attraktiver mache. Ball bezifferte die Kosten für den benötigten Ausbau des ÖPNV und das entsprechende Personal dazu auf zehn bis zwölf Milliarden Euro jährlich bis 2030.
„Zurückhaltung bei einigen Ländern“
In Hinblick auf den Klimaschutz forderte Jan Schilling, dass „neben den Ländern der Bund als Verpflichteter der Klimaschutzziele eintreten muss.“ Die Länder müssten dem aber auch gerecht werden, fügte er hinzu. Eine Begründung für diese „Zurückhaltung der Länder“ nannte Matthias Stoffregen, Geschäftsführer des Verbandes der Wettbewerbsbahnen im Schienenpersonenverkehr (Mofair): Einige ostdeutsche Flächenländer etwa sähen sich gezwungen, Rücklagen zu bilden, um ihren ÖPNV in den nächsten Jahren weiter finanzieren zu können. In einigen westdeutschen Ländern seien es große Infrastrukturvorhaben, für die Geld angespart werde.
„Nicht zu hohe Ziele setzen“
Professor Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin schlug ein Modell vor, bei dem die Anzahl der Fahrgäste berücksichtigt werden soll (ein ausführliches Interview mit Prof. Knie lest ihr hier). „Solange die Anzahl der beförderten Kunden nicht wichtig ist, werden wir nichts ändern können“, befand Knie.
Professor Kay Mitusch vom Karlsruher Institut für Technologie ergänzte: „Wenn leere Busse herumfahren, spart das kein CO2 ein.“ Die Länder sollten sich verstärkt in Abstimmung mit dem Bund an der Finanzierung beteiligen, um bessere Angebote auf dem Land zu schaffen. „Man sollte sich im ländlichen Raum aber nicht zu hohe Ziele setzen“, sagt Mitusch.
Die ganze Debatte könnt ihr euch auf bundestag.de anschauen.
Viktoria Sochor
ist 20 Jahre alt und studiert Rechtswissenschaften und Politik in Göttingen. Neben dem Schreiben gehört das Fotografieren und Reisen zu ihren Leidenschaften. Das größte Abenteuer erlebte sie, als sie eine einwöchige Zugfahrt durch die kanadische Prärie unternahm.