Holocaust-Überlebende „Ich war kein Mensch mehr“
Inge Auerbacher überlebt als Kind den Terror der Nazis. mitmischen-Autorin Irina hat mit ihr über ihre Geschichte gesprochen, in der es um Scherben, Schlägertrupps und den Schlüssel zu einer friedlichen Welt geht.
Es gibt Augenblicke, die brennen sich für immer ein. Bilder, die uns auch nach vielen Jahrzehnten nicht loslassen. Geräusche, die uns im Ohr bleiben, als hätten wir sie gerade eben erst vernommen. Für Inge Auerbacher ist es der Krach von zersplitterndem Glas, der ihr bis heute im Gedächtnis ist.
Das Geräusch erinnert sie an den Moment, als der Terror der Nazis ihr junges Leben erreicht. So erzählt es Auerbacher Mitte Januar am Telefon. Obwohl die 87 Jahre alte Frau mit dem kurzen schwarzen Haar und den großen dunklen Augen seit mehr als sieben Jahrzehnten in den USA lebt, hat sie ihre Muttersprache nie verlernt. Ein leichter schwäbischer Einschlag verrät ihre Wurzeln in einer kleinen Gemeinde am Rande des Schwarzwalds im Südwesten Deutschlands. „Ich bin ein Dorfmädel“, sagt sie nachdrücklich, doch mit warmer Stimme.
Erinnerungen an das Grauen
Es ist ein kalter Novembertag des Jahres 1938. Inge Auerbacher, noch keine vier Jahre alt, erlebt, wie am helllichten Tag ein Backstein die Fensterscheibe des Wohnzimmers zerschmettert. Glasscherben fallen klirrend zu Boden. Draußen grölen junge Männer. Ein zweiter Stein fliegt hinterher, verfehlt das Mädchen nur knapp.
Mutter und Großmutter packen die kleine Inge an der Hand. Die drei flüchten aus dem Haus und suchen Schutz in einer Scheune im Hinterhof. Stundenlang harren sie in der Kälte aus, während auf der Straße Schlägertrupps wüten. Es ist der Moment, an dem sich das Geräusch von zersplitterndem Glas in Inge Auerbachs Gedächtnis einbrennt.
Heute lebt sie in der pulsierenden Weltmetropole New York. Genauer gesagt in Queens, jenem Stadtteil, in dem nach ihren Worten „die meistverschiedenen Menschen von ganz Amerika“ wohnen. Wir sind verabredet, um über ihre Geschichte zu sprechen. Über ihre Kindheit als jüdisches Mädchen in Nazi-Deutschland. Und über ihr 1986 erschienenes erstes Buch mit dem Titel „Ich bin ein Stern“, ein bewegender Bericht jener Jahre, erzählt durch die Augen ihres kindlichen Ichs.
Anfang des Terrors
Was Inge Auerbacher an jenem Tag im November 1938 erlebt, wird später als sogenannte Novemberpogrome in die Geschichtsbücher eingehen. Als Auftakt eines der dunkelsten Kapitel der Menschheit: dem Holocaust, wie der Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden bezeichnet wird.
Im ganzen Land verwüsten Nazis rund um den 9. November jüdische Geschäfte und Wohnungen. Sie plündern und zünden Synagogen an, demütigen und schlagen Menschen auf offener Straße, Hunderte sterben. Für Millionen Jüdinnen und Juden markiert die Gewalt jener Tage den Beginn einer unvorstellbaren Leidensgeschichte, ein sieben Jahre andauernder Albtraum. Und mitten drin ist Inge Auerbacher.
„Wir hatten ein gutes Leben“
Ihre Geschichte beginnt in einem kleinen süddeutschen Dorf. Geboren am Silvestertag des Jahres 1934 wächst sie als einziges Kind eines jüdischen Ehepaars in der 2000-Seelen-Gemeinde Kippenheim auf. Die Familie ist seit vielen Generationen fest in der Region verwurzelt. Der Vater, ein Textilhändler, kämpft als junger Soldat im Ersten Weltkrieg, bis ihn eine Kugel an der Schulter trifft.
„Wir hatten ein gutes Leben in Deutschland“, erzählt Inge Auerbacher. Bis der Judenhass der Nazis in ihrer Gemeinde ankommt. Mit den Novemberpogromen erreicht die Gewalt eine neue Stufe: Schikanen, Plünderungen, willkürliche Verhaftungen. Auch Auerbachers Vater und Opa werden wochenlang festgehalten und misshandelt. Kurz darauf stirbt der Großvater. An „gebrochenem Herzen“, schreibt sie in ihrem Buch.
Zwischen Glück und Grauen
Die Eltern verkaufen das Haus und ziehen mit der Tochter ins Dorf der Großeltern. Obwohl die Nazis jeden Tag neue grausame Regeln schaffen, beginnt für das Mädchen dort, in Jebenhausen, eine glückliche Zeit. Sie hat viele Freunde, zieht mit den anderen Kindern um die Häuser. „Ich war ein sehr wildes Mädchen“, erzählt sie, in ihrer Stimme schwingt ein Lächeln mit. Es sei eine schöne Kindheit gewesen. „Aber kurz, ganz kurz.“
Denn die Lage spitzt sich weiter zu. Hitler und seine Leute gehen immer brutaler gegen Jüdinnen und Juden vor, von denen er behauptet, sie seien „minderwertig“. Auch in Inge Auerbachers Leben ist der Terror endgültig angekommen. Auf ihrer Kleidung muss die Sechsjährige einen gelben Stern mit der Aufschrift „Jude“ tragen. „Das war eine sehr große Erniedrigung“, erinnert sie sich. „Ich habe gedacht, ich bin genau wie alle anderen. Aber auf einmal konnte man mich anspucken, mich schlagen. Ich war kein Mensch mehr.“
Nummer XIII-1-408
Kurz darauf deportieren die Nazis ihre Großmutter. Sie verschleppen sie nach Riga in Lettland. „Ich werde nie den tränenreichen Abschied vergessen“, schreibt Auerbacher in ihrem Buch. Für die allermeisten sind diese Zwangsverschickungen der Nazis in Ghettos und Lager eine Fahrt in den Tod. Auch Auerbacher sieht ihre Oma nie wieder.
Wenige Monate später erhalten auch die Siebenjährige und ihre Eltern den Transportbefehl: Am 22. August 1942 wird die Familie deportiert. Zusammen mit rund 1200 anderen Gefangenen werden sie in einen Zug Richtung Osten gepfercht. Inge Auerbacher bekommt die Nummer XIII-1-408.
Ankunft in der Hölle
Zwei Tage dauert die Fahrt, dann haben sie das Ziel erreicht: Theresienstadt. So heißt der Ort, an dem sie und ihre Eltern die nächsten drei Jahre (über-)leben. Ein Ghetto im heutigen Tschechien, mit hohen Mauern, Wassergräben und Stacheldraht drum herum.
Krankheit und Hunger nagen an den vielen Frauen, Männern und Kindern. Immer wieder breiten sich Seuchen aus. Von den 140.000 Menschen, die zwischen 1941 und 1945 in Theresienstadt eingesperrt sind, stirbt jeder vierte vor Ort. Mehr als 88.000 werden in sogenannte Vernichtungslager wie Auschwitz weiter deportiert und dort ermordet.
Gestohlene Kindheit
Vor allem für Kinder ist Theresienstadt ein grausamer Ort. In ihrem Buch schreibt Inge Auerbacher: „Die wichtigsten Wörter in unserem Sprachschatz waren: Brot, Kartoffeln und Suppe.“ Sie schildert, wie der Hunger zu ihrem ständigen Begleiter wird. Wie die Eltern sie ermahnen, nicht zu toben und ihre Kräfte zu schonen. Wie die knurrenden Mägen die Menschen im Ghetto selbstsüchtig und reizbar machen.
Sie schreibt vom allgegenwärtigen Geruch des Todes. Von den Ratten und Wanzen. Vom sogenannten Krankenhaus, in dem sie als Mädchen viele Monate verbringen muss. Erst weil sie Scharlach hat, dann Masern, Mumps und eine Mittelohrentzündung.
Freundschaft im Ghetto
Ein faulig riechender Abfallhaufen wird für sie und die anderen Kinder im Ghetto zum Spielplatz. „Hier wühlten wir stundenlang herum, wateten knietief durch die weggeworfenen Sachen und hofften, einen Schatz zu finden.“
Inmitten dieses unmenschlichen Orts lernt sie ihre beste Freundin Ruth kennen. Die Mädchen sind fast gleich alt und werden unzertrennlich. Bis Ruth und ihre Eltern nach Auschwitz deportiert werden und dort sterben. Es ist einer der letzten Transporte in das Vernichtungslager, bevor die sowjetische Armee am 8. Mai 1945 die Überlebenden des Ghettos befreit. Hitler-Deutschland hat kapituliert, der Krieg in Europa ist beendet. Inge Auerbacher und ihre Eltern haben die Hölle überlebt.
Schatten der Vergangenheit
Ein Jahr später emigriert die Familie von Deutschland in die USA. In New York findet Inge Auerbacher eine neue Heimat, aber die Schatten der Vergangenheit holen sie ein. Lange hat sie mit den Folgen ihrer Mangelernährung im Ghetto zu kämpfen. Sie erkrankt an Tuberkulose, einer schweren Infektionskrankheit, die überwiegend die Lunge befällt, und verbringt vier Jahre im Bett.
Trotzdem holt sie, die im Nazi-Deutschland nicht einmal die erste Klasse beenden durfte, die Schule nach, entscheidet sich für ein schweres Chemie-Studium und arbeitet 38 Jahre lang als Chemikerin in der medizinischen Forschung. Auch um sich selbst und aller Welt zu beweisen: Sie kann was, sie ist jemand. Sie ist etwas wert.
Schlüssel zum Frieden
Heute kämpft Inge Auerbacher auf der ganzen Welt gegen das Vergessen und für ein friedliches Miteinander. Sie hat sechs Bücher geschrieben und tritt regelmäßig im Fernsehen und Radio auf. Hat vor den Vereinten Nationen gesprochen und ihre Geschichte in allen Winkeln dieser Erde erzählt, von Russland bis Neuseeland. Für sie ist der Schlüssel für eine friedliche Welt: die Menschen und ihre Religionen kennenlernen.
So wie in ihrem Viertel im New Yorker Stadtteil Queens, wo Auerbacher in einem Reihenhaus lebt. Links eine fromme muslimische Familie aus Bangladesch, rechts eine Hindu-Familie aus Guyana, daneben eine christliche Familie und mittendrin eine Dame jüdischen Glaubens. „Vier Religionen wohnen friedlich zusammen“, sagt die 87-Jährige. „Das wäre mein Wunsch für die ganze Welt.“
„Wir sind alle Sterne“
Ein schönes Schlusswort. Doch bevor wir unser Gespräch beenden, hat Inge Auerbacher noch eine Frage. „Wissen Sie, warum mein Buch ‚Ich bin ein Stern‘ heißt?“ Ohne zu warten schiebt sie die Antwort hinterher: „Das heißt nicht ‚Ich bin ein Judenstern‘. Ja, wir mussten den Judenstern tragen. Das sollte mich als Unmenschen zeigen. Aber ich habe dieses Symbol umgedreht: Für mich ist ein Stern etwas Besonderes. Und ich will, dass alle Menschen von sich denken, dass sie Sterne sind. Jeder ist würdig. Wir sind alle Sterne.“