Debatte im Plenum Das Startchancen-Programm für mehr Bildungsgerechtigkeit
Naomi Webster-Grundl und Jasmin Nimmrich
Die Ampelfraktionen sind sich einig: Das Startchancen-Programm ist das größte Bildungsprojekt in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Opposition ist da anderer Meinung. Wie steht es um das Bildungssystem in Deutschland und welche Investitionen sind nötig, um eine echte Bildungsgerechtigkeit zu erreichen?
In ihrem Antrag „Gute Startchancen für mehr Bildungsgerechtigkeit“ fordern die Koalitionsfraktionen die Bundesregierung auf, die Umsetzung des „Startchancen-Programms“ zügig auf den Weg zu bringen. Das Startchancen-Programm soll einen Umfang von 20 Milliarden Euro haben. Damit sollen über einen Zeitraum von zehn Jahren Schülerinnen und Schüler in rund 4.000 Schulen in benachteiligten Lagen unterstützt und dadurch ihre Bildungschancen und Zukunftsperspektiven verbessert werden.
FDP: Das größte Bildungsprojekt in der Geschichte der Bundesrepublik
Ria Schröder (FDP) begann mit einem Ausblick auf den kommenden Sommer, in dem mit dem Startchancen-Programm „das größte Bildungsprojekt in der Geschichte der Bundesrepublik an den Start geht“. Mehr als eine Millionen Schülerinnen und Schüler an 4.000 Schulen würden Teil dieses Programms werden. Ein besonderer Fokus werde dabei auf die Schulen gelegt, an denen „die Kombination aus Armut, wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit und aus geringen Sprachkenntnissen dazu führt, dass junge Menschen nicht die Unterstützung erhalten, die sie verdienen“, so Schröder.
Das Startchancen-Programm stelle einen Paradigmenwechsel dar, mit dem der Bund und die 16 Bundesländer durch die Investition von 20 Milliarden Euro dem Bildungsnotstand eine „Kampfansage“ machten. Der Weg zum Startchancen-Programm ist laut Schröder kein leichter gewesen, denn durch den Bildungsföderalismus seien in den 16 Bundesländern 16 verschiedene Bildungssysteme entstanden. Doch die dadurch entstandenen Hürden seien überwunden worden, „und die Kooperation von Bund, Ländern und Kommunen, die ist nicht nur ein Gebot, sie wird immer mehr zur Realität.“
Weiter bezog sich Schröder auf die Abkehr vom Königsteiner Schlüssel, der festlegt wie die einzelnen Bundesländer an gemeinsamen Finanzierungen zu beteiligen sind, und bezeichnete diesen als „völlig ungeeignet, um zielgerichtet gegen Bildungsbenachteiligung vorzugehen“. Mit dem Startchancen-Programm würden die finanziellen Mittel nun anhand von besser geeigneten Sozialindizes verteilt. Des Weiteren stärke das Programm die Schulautonomie, um die bestmögliche Schul- und Unterrichtsentwicklung zu gewährleisten. Schröder schloss mit ihrer Einschätzung, „dass Bildung das beste Mittel (ist), um selbstbestimmt durchs Leben zu gehen und um Armut zu vermeiden“. Das Startchancen-Programm sei eine Kinder-Chancen-Sicherung, die die Bildung vom Elternhaus entkopple.
Der Königsteiner Schlüssel
Mit dem „Königsteiner Schlüssel“ wird entschieden, zu welchen finanziellen Anteilen sich die Bundesländer an gemeinsamen Ausgaben beteiligen müssen. Zur Berechnung des Schlüssels wird der Bevölkerungsanteil zu einem Drittel und die Wirtschaftskraft, anhand der Steuereinnahmen der Bundesländer, zu zwei Dritteln angesetzt. So ist das Bundesland Nordrhein-Westfalen aufgrund der Bevölkerungszahl der Hauptträger von gemeinsamen Finanzierungen. Es gibt auch einen modifizierten Königsteiner Schlüssel, bei dem der Bund sich mit dem gleichen Betrag wie das Bundesland mit dem höchsten Anteil an der Finanzierung beteiligt.
CDU/CSU: Viel versprochen, doch noch nichts erreicht
Nadine Schön (CDU/CSU) wies zu Beginn ihrer Rede auf die „alarmierenden“ Ergebnisse der PISA-Studien in den vergangenen Jahren hin: 30 Prozent der Grundschülerinnen und -schüler würden die Grundschule verlassen, ohne richtig lesen und schreiben zu können; die Anzahl der Schul- und Ausbildungsabbrecher steige und nur jeder sechste sei für den Arbeitsmarkt vermittelbar. Dies sei besonders dramatisch in Zeiten einer schrumpfenden Wirtschaft und des Fachkräftemangels. Angesichts der zahlreichen Schieflagen sei es angebracht, dass „Bund, Länder und Kommunen ihre Anstrengungen im Bildungssektor intensiveren“, so Schön.
Doch in den vergangenen zweieinhalb Jahren sei unter der aktuellen Bundesregierung kaum etwas passiert. Der von Bildungsministerin Stark-Watzinger (FDP) angekündigte Digitalpakt sei weiterhin „weit und breit nicht in Sicht“; das Startchancen-Programm sei groß angekündigt worden, aber noch zu keinem Teil umgesetzt; und auch die Kooperation zwischen Bund, Ländern und Kommunen sei in Bildungsfragen „so schlecht wie nie in der Geschichte der Republik“.
Eines der größten Probleme des Startchancen-Programms sei, dass viel zu wenige Schülerinnen und Schüler von diesem profitieren werden würden: „Von elf Schülern wird einer in den Genuss kommen und zehn nicht. Wir haben aber die Probleme bei PISA an allen Schulen in unserem Land.“ Außerdem sei immer noch nicht klar, wie es mit dem Digitalpakt weitergehen solle. Werde dieser nicht zeitnah angegangen, würden die Mittel, die den Schulen durch das Startchancen-Programm zur Verfügung stünden, fast vollständig in die Digitalisierung der Bildungseinrichtungen fließen. Schön rief die Bundesregierung deshalb dazu auf: „Sorgen Sie für Verlässlichkeit, sorgen Sie dafür, dass Sie endlich eine konsistente Bildungspolitik machen und rüsten Sie ein bisschen ab mit der Sprache, sonst wecken Sie nur Erwartungen, die Sie nicht erfüllen können.“
Der DigitalPakt
Mit dem „DigitalPakt Schule“ sollen Infrastrukturvorhaben, die über Landesgrenzen hinausgehen, gefördert werden. Als Infrastrukturvorhaben zählen Projekte, die digitale Bildungsmedien bereitstellen und bewerten, Diagnostik und Leistungsfeststellung online ermöglichen, Schnittstellenstandards verbessern oder das Lehrpersonal beraten und weiter qualifizieren. Alle Vorhaben sollen eine digitale Lehr- und Lerninfrastruktur schaffen.
SPD: Gute Bildung, gute Zukunft
Saskia Esken (SPD) eröffnete ihre Rede mit der Feststellung, dass wir aktuell in bewegten Zeiten lebten – „Zeiten voller Krisen, voller Umbrüche, voller Zukunftssorgen“. Gerade deshalb sei es wichtig, dass der Bundestag über Bildung rede. Denn Menschen bräuchten Bildung als Grundlage, um in solchen Zeiten stark zu bleiben und um Resilienz zu zeigen. Sie bräuchten eine „Bildung, die stark und mutig macht. Bildung ist das Emanzipationsversprechen der SPD seit 160 Jahren“, so Esken. Bildung solle Menschen dazu befähigen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
In ihrer Generation sei es vielen Arbeiterkindern gelungen, die Hoffnungen ihrer Eltern – „unsere Kinder sollen es mal besser haben“ – zu verwirklichen. Doch seither sei die Herausforderung des Bildungssystems, Nachteile des Elternhauses auszugleichen, wesentlich größer geworden. Esken erklärt an ihre Vorrednerin Nadine Schön (CDU/CSU) gewandt, dass die vorherige CDU-geführte Regierung dieses Problem 16 Jahre lang liegen gelassen habe.
Die Kinderarmut müsse als Folge der Erwerbsarmut ihrer Eltern begriffen werden. Deswegen gehe die aktuelle Regierung mit einem höheren Mindestlohn, besseren Tariflöhnen und einer höheren Erwerbsbeteiligung der Mütter dagegen vor. „Aber auch unser Bildungssystem muss sich den Herausforderungen einer diversen Gesellschaft stellen.“ Jedes 16. Kind – bei Kindern mit Migrationshintergrund jedes siebte – verlasse die Schule ohne einen Abschluss. Dies sei eine Ungerechtigkeit, aber auch eine Bedrohung für den Wohlstand und die Volkswirtschaft Deutschlands. „Um das zu lösen, müssen die Nachteile schon ganz früh ausgeglichen werden. Mit dieser Aufgabe dürfen wir Eltern und Pädagoginnen und Pädagogen nicht alleine lassen.“ Dafür sei das Startchancen-Programm ein großer Schritt.
Das Programm gehe sehr gezielt vor, sei langfristig angelegt und werde kontinuierlich wissenschaftlich begleitet und evaluiert. „Dadurch gewinnen wir Daten und Fakten darüber, was wirklich notwendig ist, um Schulentwicklung und Bildung besser zu gestalten. Und davon wird unser Bildungssystem als Ganzes profitieren.“ Mit dem Startchancen-Programm sei das größte Bildungsprogramm der Geschichte der Bundesrepublik auf den Weg gebracht, doch natürlich gebe es dadurch noch keine perfekte Bildungswelt und es müsste noch viel mehr investiert werden, so Esken. „Jede Investition in gute Bildung ist eine Investition in Wachstum, Wohlstand und eine gute Zukunft“, schloss sie ihre Rede.
AfD: Das Projekt wird scheitern
„Investitionen in unser Bildungssystem sind dringend notwendig“, erklärte Götz Frömming (AfD) zu Beginn seiner Rede. Es brauche mehr Lehrer und eine verbesserte Infrastruktur. Die jüngsten PISA-Erhebungen hätten gezeigt, wohin die Politik der vergangenen Jahre „unser einst weltweit bewundertes Bildungssystem“ gebracht habe: verrottete Schulgebäude und „auch der Geist ist verrottet“. Frömming warf den anderen Fraktionen vor, dass ihnen Ideologie wichtiger sei als echte Bildung. Echte Bildungsgerechtigkeit setze die Akzeptanz voraus, dass nicht alle Menschen gleich seien, sein müssten und gleich sein könnten.
Auch das Startchancen-Programm „triefe vor Ideologie“, so Frömming. Er kritisierte, dass die 20 Milliarden Euro, die durch das Startchancen-Programm in das Bildungssystem investiert werden sollen, nicht allen Schulen gleichermaßen zugutekommen werden. Frömming erklärte, dass der Großteil leer ausgehen werde, wenn nur 4.000 ausgewählte Brennpunktschulen gezielt besser ausgestattet würden. Frömming kam zu dem Schluss, dass Schulen mit besonders vielen Kindern mit Migrationshintergrund die Lieblingsschulen der Bundesregierung sein müssten. Wenn Schulen nicht mit Investitionen im Rahmen des Startchancen-Programms bedacht würden, käme dies einer Strafe gleich, „weil sie noch funktionieren“. Die AfD fordere eine gleichmäßige Verteilung auf alle Schulen.
Frömming konstatierte außerdem, dass das weitere Ziel des Programms, die Leistung der Schüler zu verbessern, nicht funktionieren werde. Mit mehr Geld könne man keine fehlende Bildung kaufen, denn „Bildung ist keine Ware“, so Frömming. 2,5 Millionen Menschen ohne Berufsabschluss seien das Ergebnis der aktuellen Bildungspolitik. „Ihr Projekt wird scheitern, das prophezeie ich Ihnen. In zehn Jahren werden diese Schüler nicht besser sein als heute.“
Bündnis 90/Die Grünen: Alle Kinder haben gleiche Startchancen verdient
Mit den Worten „Heute ist ein großer Tag für Bildungsgerechtigkeit, heute wird Kooperation für Chancengerechtigkeit ganz konkret, denn Bildung ist präventive Sozialpolitik“ begann Kai Gehring (Bündnis 90/Die Grünen) seine Rede. Der Bildungserfolg in Deutschland hänge „immer noch viel zu stark von der sozialen Herkunft, dem elterlichen Geldbeutel und Postleitzahl“ ab. Dies müsse und werde sich ändern, denn „alle Kinder haben gleiche Startchancen verdient“.
Das Startchancen-Programm erneuere die Bildungschancen für alle und unterstütze mit einer Investition von 20 Milliarden Euro in den nächsten zehn Jahren zehn Prozent aller deutschen Schulen. „Das Startchancen-Programm ist damit in der Tat die größte Bund-Länder-Bildungsinitiative, die es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland jemals gab“, so Gehring. Mit den drei Säulen des Startchancen-Programms (1. Investitionen in eine zeitgemäße und förderliche Lernumgebung; 2. Chancenbudgets für bedarfsgerechte Lösungen in der Schul- und Unterrichtsentwicklung; 3. Personal zur Stärkung multiprofessioneller Teams) könnten aus Brennpunkten „Zukunftslabore“ entwickelt werden.
2015 sei die Idee für das Startchancen-Programm noch belächelt worden, heute sei es „eine wuchtige Vereinbarung aller 16 Bundesländer mit dem Bund, über die sich meine Fraktion und die gesamte Koalition freut, denn sie bringt ganz konkret sozialen Fortschritt“. Das Startchancen-Programm sei der Anfang einer Bildungswende und zeige, was möglich sei, wenn alle an einem Strang zögen. Mit dem Startchancen-Programm würde Kindern die Chance gegeben, richtig durchzustarten, „mit besseren Schulen, mehr Empowerment, mit Entlastung, auch durch die Kindergrundsicherung, kurzum: mit gleichen Startchancen und echten Zukunftsaussichten“.
Hier könnt ihr euch die gesamte Debatte zur Bildungsgerechtigkeit anschauen.