Assemblée nationale Zu Besuch im französischen Parlament
Cora Dollenberg
Frankreich und Deutschland verbindet eine intensive Freundschaft. Die Abgeordneten beider Länder arbeiten beispielsweise in der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung eng zusammen. Welche Gemeinsamkeiten die Gebäude der beiden Parlamente haben und wie sie sich unterscheiden, hat sich mitmischen-Autorin Cora angeschaut.
„11 Uhr. Verspätungen werden nicht toleriert“, lese ich fett gedruckt auf meiner digitalen Eintrittskarte, und laufe ein bisschen schneller zur Metro 8 Richtung Balard. Das Ziel meiner Reise quer durch die Hauptstadt unseres westlichen Nachbarlandes ist das Herz der französischen Demokratie: Die Assemblée nationale, zu Deutsch die Nationalversammlung. Wie im Deutschen Bundestag wird hier der Kerngedanke der Demokratie in die Praxis umgesetzt. 577 Abgeordnete aus ganz Frankreich, die mit den Abgeordneten des Senats die Legislative, also die gesetzgebende Kraft bilden, arbeiten hier und entscheiden über Gesetzesvorschläge.
Von der Assemblée nationale kenne ich bisher nur den großen Plenarsaal mit den roten Sesseln. In Frankreich nennt man den Plenarsaal Hémicycle, wegen seiner Aufstellung im Halbkreis. Im Deutschen Bundestag war ich schon. Jetzt will ich genauer wissen, wie sich die französische Demokratie anfühlt, 1.053 Kilometer vom Berliner Reichstagsgebäude entfernt.
Beeindruckender Weg zum Plenarsaal
Nach ein paar hundert Metern am Quai d’Orsay südlich der Seine entlang und zehn Minuten Warten, in denen mir langsam die Zehen abfrieren, öffnet ein Herr in schickem Anzug eigenhändig eine Tür im Vorbau des Parlamentsgebäudes. Die Tür ist weder aus Glas noch automatisch, wie im Bundestag, sondern einfach aus Holz, dunkelblau gestrichen. Accueil steht obendrüber, Empfang. Ich passiere eine sehr strenge Sicherheitskontrolle und einen dunklen Flur mit Holzwänden und prächtigem Marmorboden in Schachbrettmuster, dann stehe ich auch schon im Parlamentsgebäude: dem Palais Bourbon.
Der erste Raum zu meiner Rechten verbindet das Hôtel de Lassay, den Sitz der Parlamentspräsidentin, mit dem Palais Bourbon. Beide Gebäude wurden von 1722 bis 1728 für die Tochter des Sonnenkönigs Ludwig XIV erbaut. Gemessen an deutschen Standards, ich denke an die moderne Kombination aus Beton und Glas der Bundestagsgebäude, wirkt dieser erste Raum im Palais Bourbon seinem Namen entsprechend nicht wie ein Parlament, sondern wie ein Schloss. Hohe, gewölbte Decken mit vielerlei Gemälden und goldenem Stuck, purpurne Vorhänge vor den bodentiefen Fenstern und fünf mächtig strahlende Kronleuchter erinnern an den Spiegelsaal von Versailles.
Den nächsten Raum müssen alle durchqueren, die zum Hémicycle wollen, zum Plenarsaal. Vor den Parlamentssitzungen am Nachmittag steht das französische Militär für diesen Gang zum Plenarsaal sogar Spalier, um den Schutz der französischen Regierung durch die Armee zu unterstreichen. Statuen aus dunklem Marmor, verspiegelte Türen, zahlreiche Goldverzierungen und rote Samtsessel und Sofas in den Räumen vor dem Hémicycle schüchtern mich ein. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ernster Miene, die Einrichtung, die Gemälde und Statuen verleihen dem Ort Autorität, aber sie schaffen auch Distanz.
Sitze in rot und eine gold-verzierte Decke
Ich biege um die Ecke des Flurs und stehe vor einer Schulklasse, Mittelstufe. Der Trubel um die Schülerinnen entschärft die Autorität des Parlaments und macht es auf einmal viel nahbarer. Der Lehrer fragt seine Schulklasse, welche Möglichkeiten das Parlament zur Kontrolle der Regierung hat, und ich zücke meinen Stift, weil ich selbst nicht weiß, wie das in Frankreich geht. Ähnlich dem Misstrauensvotum in Deutschland gibt es in Frankreich die Motion de Censure, durch den die Abgeordneten die Regierung zur Not absetzen können. Das ist neben der Arbeit an Gesetzesvorschlägen und der Abstimmung darüber die wichtigste Kompetenz der Abgeordneten. Sie können so die Exekutive, also die Regierung, kontrollieren.
Zurück in den Hémicycle. Die Sitze für die Abgeordneten im Bundestag sind Reichstags-Blau, hier sind sie Mariannen-Rot. Die mit Gemälden und Gold verzierte Decke, die Marmorsäulen und das steinerne Rednerpult der Parlamentspräsidentin im Plenarsaal sind das Gegenteil des modernen, minimalistischen Bundestags mit seiner gläsernen Kuppel. Die Sitze im Plenarsaal des Palais Bourbon wurden 1798 für den Rat der Fünfhundert nach der französischen Revolution installiert.
Vor der Schulklasse spricht jetzt eine Abgeordnete mit kurzen blonden Haaren. Laure Miller, sie sitzt für den Landkreis Marne im Nordosten Frankreichs und für die liberale Präsidentenpartei Renaissance im Parlament. Sie zeigt auf die drei Knöpfe auf den Tischen der Abgeordneten: Zustimmung, Ablehnung, Enthaltung. Die wichtigsten Instrumente der Abgeordneten bei Abstimmungen über Gesetzesvorhaben, sagt sie. Dann lacht Madame Miller und deutet auf zwei versetzte Marmorplatten in der steinernen Wand hinter der letzten Reihe. Sie erklärt, dass hier verstecke Ausgänge liegen, durch die man sich unauffällig aus dem Plenarsaal stehlen kann.
Ein Palais als Arbeitsplatz
Ich verlasse den Plenarsaal über den offiziellen Ausgang und sehe eine Frau auf einem der roten Sofas vor dem Hémicycle sitzen. Sie telefoniert vor ihrem aufgeklappten Laptop. Neben ihr stolpert ein Schüler über eine Absperrung, die mit einem lauten Knall umfällt. Erschrocken schaut er sich um, schon eilt ein schick gekleideter Parlamentsmitarbeiter in seine Richtung. Der stellt den goldenen Poller wieder auf, an dem zur Absperrung der Besuchsrichtung eine dicke rote Kordel befestigt ist, und lacht. Der Schüler, er rechnete vermutlich schon mit dem Schlimmsten, ist sichtlich erleichtert.
Und ich denke: Das Parlament hier ist geprägt von Symbolen, Geschichte und Ritualen, die die Demokratie ehren und schützen sollen. Aber auch die Abgeordneten der Assemblée nationale holen sich ein Brötchen auf die Hand beim Kiosk hinter dem Plenarsaal, sie kommen zu spät oder müssen Dinge nachschlagen. Die Demokratie ist kein abstraktes, unantastbares Konzept, sondern ein realer Arbeitsalltag, an dem man mitwirken kann. Die vielen Menschen, die hier arbeiten, ob als Abgeordnete mit Büchern unter dem Arm, als Putzkräfte oder Angestellte im Restaurant oder am Empfang, beweisen das.
Cora Dollenberg
ist in NRW und Baden-Württemberg aufgewachsen, spricht aber weder Kölsch noch Schwäbisch. Dafür Französisch, vor allem während ihres Studiums in Paris. Sie schreibt und spricht am liebsten über tagesaktuelle Politik und Literatur.