80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz „Die Erinnerung muss lebendig gehalten werden“
Carolin Hasse
2025 jährt sich die Befreiung von Auschwitz zum 80. Mal. Christoph Heubner vom Internationalen Auschwitz Komitee erzählt im Interview, wie sich die Ziele des Komitees mit der Zeit verändert haben und warum es für das Komitee so wichtig ist, junge Leute mit seiner Arbeit zu erreichen.
Das Auschwitz-Komitee wurde von Überlebenden des Lagers gegründet, um zusammenzubleiben und herauszufinden, wer noch am Leben ist. Viele Überlebende waren in aller Welt verstreut, nur wenige kehrten nach Deutschland zurück – sie gingen nach Amerika, Israel oder in andere Länder. Es ging darum, Nähe über Ländergrenzen hinweg zu schaffen und das Gefühl der Einsamkeit zu mindern.
Man wollte dem wachsenden Antisemitismus entgegenwirken, die Auschwitz-Lüge bekämpfen und sich gegen das Wiederaufleben rechtsextremer Ideologien einsetzen. Im Laufe der Jahre wurde klar, dass Antisemitismus nicht nur fortbesteht, sondern wächst und in seiner Aggressivität ungebrochen bleibt.
Ein weiterer Schwerpunkt war der Kampf um Entschädigungen. Viele Überlebende hatten in Zwangsarbeitsstätten unter SS-Kontrolle geschuftet, ohne dafür je entlohnt zu werden. Der Einsatz für die Anerkennung und Entschädigung dieser Zwangsarbeit blieb über die Jahre ein zentrales Anliegen. Heute konzentriert sich die Arbeit auch darauf, mit jungen Menschen zu sprechen, ihnen die Geschichten der Überlebenden nahe zu bringen und sie zu ermutigen, ihre Gegenwart und Zukunft aktiv als Demokraten zu gestalten.
Weil junge Leute die Zukunft sind. Es berührt mich zutiefst, wenn ich daran denke, dass die Menschen, die in Konzentrationslager verschleppt wurden, genau die gleichen Wünsche für ihr Leben hatten wie junge Erwachsene heute: einen guten Beruf, eine Perspektive, Liebe, Freude – all das, was wir als normal ansehen.
Die Überlebenden wünschen sich heute nichts mehr, als dass die nachfolgenden Generationen ein Leben führen können, das frei von unsäglichem Leid bleibt. Doch dieses Leben kann nicht von anderen gesichert werden. Es liegt in der Hand der heutigen Jugend, Verantwortung zu übernehmen und sich aktiv für Demokratie und Gerechtigkeit einzusetzen. Das versuchen die Überlebenden zu vermitteln: ohne Bitternis, ohne Anklagen, ohne erhobenen Zeigefinger.
Meine eigene Arbeit begann während meines Zivildienstes beim Verein Aktion Sühnezeichen. Ich arbeitete in Gedenkstätten in Polen, führte Gruppen junger Menschen an diese Orte und lernte Überlebende kennen. Diese Begegnungen führten dazu, dass ich ihre Geschichten weitertrage – auch als Schriftsteller.
Eine der Geschichten, die mir besonders im Gedächtnis geblieben ist, stammt von Rosa Ehrlich aus Kassel. Sie war noch eine junge Frau, als sie als Jüdin nach Auschwitz deportiert wurde, nachdem sie sich zuvor nach Belgien geflüchtet hatte. Jahrzehnte später gab es eine Gruppe von Auszubildenden bei Volkswagen in Kassel, die in Auschwitz fotografiert haben. Sie haben eine Ausstellung mit großen Farbfotografien zusammengestellt und Rosa Ehrlich, die mittlerweile Rosa Goldstein hieß, zu ihrer Ausstellung eingeladen.
Eigentlich wollte Rosa nie wieder nach Kassel zurückkehren, sie hatte für sich mit diesem Kapitel abgeschlossen. Aber sie entschied sich dennoch zu kommen. Als sie mit den Jugendlichen vor der Ausstellung stand, deutete Sie auf die Fotos und sagte: „Ist das Grün!“ Die Jugendlichen fragten sie erstaunt: „Ja, gab es damals kein Gras?“ Und Rosa antwortete: „Wenn es welches gegeben hätte, hätten wir es gegessen.“ Diese Szene zeigt für mich eindringlich, wie der Hunger in Auschwitz auch eine Methode der Vernichtung war.
Der Jahrestag ist immer überwältigend, aber ein runder Jahrestag verstärkt die Emotionen. Überlebende werden nach Auschwitz reisen, obwohl der Weg für sie, mittlerweile auch körperlich, beschwerlich ist. Für sie ist dieser Ort Tatort und Friedhof zugleich. Dorthin zu gehen, bedeutet für sie, sich emotional noch einmal zu vergewissern: Der Ort bleibt.
Gleichzeitig spürt man den Hauch eines Abschieds – die Tür schlägt langsam zu. Zeitzeugen versterben. Diejenigen, die noch da sind und die Erinnerungsarbeit weiterführen, haben die Sorge, dass diese Erinnerungen mit der Zeit verblassen könnten.
Politisch wäre es wünschenswert, dass die demokratischen Parteien gemeinsam stärker betonen, welche Gefahren von rechtsextremen Ideologien und Hass ausgehen. Es ist wichtig, dass junge Menschen, die die Demokratie beobachten, nicht den Eindruck bekommen, die Parteien seien nur damit beschäftigt, sich gegenseitig zu bekämpfen, ohne die wesentlichen Gefahren zu erkennen
Es braucht eine klare Einigkeit der demokratischen Parteien in zentralen Punkten, die unsere Demokratie ausmachen. Das soll kein Einheitsbrei sein, aber es muss deutlich werden, was die Kernwerte der Demokratie sind. Leider ist genau das in letzter Zeit etwas verloren gegangen, und das macht mir Sorgen.
Die Erinnerung ist wichtig, weil diese Verbrechen von Menschen begangen wurden und damit jederzeit wieder möglich sind. Der Holocaust begann nicht in Auschwitz, sondern in den Städten und Dörfern, wo jüdische Menschen ausgegrenzt und entrechtet wurden. Ähnliche Entwicklungen können auch heute wieder geschehen, und es ist unsere Verantwortung, wachsam zu bleiben. Die Erinnerung muss lebendig gehalten werden, damit sich die Geschichte nicht wiederholt. Da fällt mir ein Satz von Marjan Turski, dem 98-jährigen Präsidenten des Auschwitz-Komitees ein, der die Frage gut beantwortet. Kürzlich sagte er in Berlin: „Wenn wir schweigen, heißt es, sie haben gewonnen.“
Christoph Heubner, geboren 1949, ist Schriftsteller und geschäftsführender Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees. Seit Jahrzehnten setzt er sich aktiv für das Gedenken an die Opfer der NS-Verbrechen und die deutsch-polnische Aussöhnung ein. Bereits seit 1985 ist er für das Internationale Auschwitz Komitee tätig, eine Organisation, die die Interessen der Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz vertritt und deren Stimmen in der Öffentlichkeit stärkt.