Abgeordnete antworten Was bedeutet Ihnen der 35. Jahrestag des Mauerfalls?
Naomi Webster-Grundl und Jasmin Nimmrich
Vier Jahrzehnte lang gab es zwei deutsche Staaten: Die Bundesrepublik Deutschland, kurz BRD, und die Deutsche Demokratische Republik, kurz DDR. Die 1961 errichtete Mauer war das Symbol für die innerdeutsche Teilung und den Kalten Krieg. Und dann plötzlich, am 9. November 1989, wurde die Mauer geöffnet. Bundestagsabgeordnete erzählen im Interview, wie sie den Mauerfall erlebt haben und wie sich ihr Leben dadurch verändert hat.
Der Fall der Mauer ist für mich persönlich eine große Wende gewesen. Im Oktober 1989 gab es in Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz, viele Demonstrationen und Kundgebungen – zum Glück sind diese überwiegend friedlich verlaufen. Meine Frau und ich mussten uns zu diesem Zeitpunkt immer abstimmen mit unserer Teilnahme an Demonstrationen, da wir unser einjähriges Kind nicht mit zu Veranstaltungen nehmen konnten. Somit wusste ich auch nie, was passiert, ob meine Frau festgenommen oder zugeführt wurde, wie es damals hieß. Und mit der Grenzöffnung 1989 hat sich dann ein Stück Weltgeschichte ereignet, das für mich einfach alles verändert hat. Und diesen besonderen Moment feiern wir auch heute immer noch. So werde ich in diesem Jahr in einer Feierstunde in einer Chemnitzer Kirchengemeinde über den 9. November sprechen.
Ja, das ist eine ganz lustige Geschichte. Am Nachmittag des 9. Novembers war ich zu Hause und habe die Pressekonferenz des SED-Funktionärs Günter Schabowski im DDR-Fernsehen verfolgt. Seine Aussage: „Nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich”, die sich auf die Reisefreiheit der DDR-Bürgerinnen und -Bürger bezog, habe ich in den Wirren etwas anders verstanden, als sie gemeint war. Denn ich dachte, dass es dabei nur um die ständigen Ausreisen, also die Ausreisen von Leuten ging, die einen Ausreiseantrag gestellt haben. Von daher bin ich dann danach normal zur Arbeit als Lokomotivführer. Abends gegen 21 Uhr habe ich den letzten Personenzug nach Narsdorf bei Leipzig gefahren, in der früh am nächsten Tag war dann die Rückfahrt nach Karl-Marx-Stadt, das heutige Chemnitz, geplant. Gegen Mitternacht habe ich dann mein Radio ausgepackt und DT64, den DDR-Jugendsender, eingeschaltet. Und im Radio haben sich die Moderatoren von DT64 vom Berliner Kurfürstendamm, also aus Westdeutschland, gemeldet und da war ich baff. Da dämmerte es mir, dass die Grenze und die Mauer offen waren und in Berlin der absolute Wahnsinn, ja eine Revolution tobte. Und ich stand am Bahnhof in Narsdorf mit meiner Lokomotive in der absoluten Provinz und habe dann dort, mitten im Nirgendwo, diesen Weltenwandel erlebt. Am nächsten Morgen war der Personenzug zurück nach Karl-Marx-Stadt deutlich leerer als sonst, wahrscheinlich, weil sich viele schon auf dem Weg gemacht hatten, um über die Grenze kommen.
Es hat sich absolut alles in Bewegung gesetzt: Es war ein Aufbruch, teils auch ins Ungewisse, bei dem es um mehr Demokratie und mehr Freiheit ging. Und da wollte ich dabei sein, also bin ich im Januar 1990 in die SPD eingetreten, die sich ein halbes Jahr vorher in der DDR gegründet hatte. Ich wollte mich politisch einbringen und bin meinen persönlichen Galionsfiguren, Willy Brandt und Helmut Schmidt, in die SPD gefolgt.
Da reicht schon ein Blick auf die Statistiken, die ja durchweg abbilden, dass weiterhin eine Trennung besteht, was Einkommens- und Vermögensverhältnisse, das Rentenniveau und auch die Wahlergebnisse betreffen – da ist immer noch eine innerdeutsche Grenze sicht- und spürbar. Und natürlich ist die Einheit ein Prozess, der auch mehrere Generationen hinweg andauert. Ich merke es bei meinen Kindern, für die die Einheit Alltag ist. Da dreht es sich nicht mehr darum, ob man nun aus Ost- oder Westdeutschland kommt. Aber im täglichen Erleben empfinden viele Ostdeutsche eine Benachteiligung, die es ja so nicht gibt. Sie beruht viel mehr auf den eigenen Erlebnissen und den Verletzungen, die beispielsweise durch die Deindustrialisierung im Osten verursacht wurden.
Detlef Müller (SPD) vertritt den Wahlkreis Chemnitz im Deutschen Bundestag. Seit 2021 ist er stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Die ersten Westprodukte, die er sich nach dem Fall der Mauer kaufte, waren die Zeitschrift Der Spiegel und eine Coca Cola.
Der Mauerfall und die Deutsche Einheit sind wichtige Anlässe, um an die Zeit der Teilung, das Leben unter undemokratischen Bedingungen in der DDR und die Zeit des Neuanfangs zu erinnern. Als die Mauer fiel, stand uns die ganze Welt offen. Diese Freiheit, die heute für die jüngere Generation selbstverständlich scheint, ist nicht selbstverständlich. Daran denke ich oft, wenn ich in meinem Wahlkreis Harz eine Fahrt mit der Harzer Schmalspurbahn auf den Brocken unternehme, der viele Jahrzehnte als Symbol der deutschen Teilung galt und als militärisches Sperrgebiet bis 1989 weder von Ost noch West erwandert werden konnte. Mir ist es wichtig, gerade für die jüngere Generation die Erinnerung an die deutsche Teilung wach zu halten und all jenen entgegenzutreten, die die Zeit vor dem Mauerfall verharmlosen.
Wir haben schon in den Tagen vorher die Demonstrationen im Westfernsehen verfolgt. Meine Kinder waren damals noch klein und bereits im Bett, als ich am 9. November vor dem Fernseher gesessen und gesehen habe, was in Berlin passiert. Ich konnte es kaum glauben! Wenn ich heute die Bilder von damals im Fernsehen oder in einer Ausstellung sehe, bekomme ich eine Gänsehaut. Es bewegt mich immer noch.
Hätte es den Fall der Mauer nicht gegeben, wäre ich heute nicht im Deutschen Bundestag. 1990 habe ich mich in der Kommunalpolitik engagiert und ich weiß noch genau, wie das Gefühl von Aufbruch in der Luft lag. Die Aufgabe „Deutsche Einheit“ war eine enorme Herausforderung und Aufbauleistung, eine Zeit des Umbruchs und der Neuorientierung. Ich habe damals die Neuordnung unserer Kommunalverwaltung in Sachsen-Anhalt hautnah miterlebt und konnte mich als junge Frau und Mutter beruflich entfalten und entwickeln – all das wäre zu DDR-Zeiten so nie möglich gewesen. Auch die Reisefreiheit, für die ich sehr dankbar bin, hat meinen Blick auf die heute globalisierte Welt verändert und mich an viele interessante Orte dieser Welt geführt.
Auf das, was wir gemeinsam aufgebaut und erreicht haben, können wir sehr stolz sein. Natürlich müssen wir am Zusammenwachsen immer wieder arbeiten. Dies ist ein fortwährender Prozess. Viele Menschen in den ostdeutschen Bundesländern fühlen sich nicht gehört oder abgehängt. Ihre Sorgen und Nöte gilt es, ernst zu nehmen, und ihr Vertrauen in unsere Demokratie zu stärken und das nicht den antidemokratischen Strömen in unserem Land zu überlassen. Auch in Teilen der alten Bundesländer gibt es strukturschwache Regionen. Auch hier müssen wir die Zukunftsthemen angehen, die den Menschen unter den Nägeln brennen. Es ist an der jungen Generation, diese Aufgabe weiterzuführen. Unsere Demokratie ist ein hohes Gut. Das wird besonders deutlich, wenn wir in andere Länder dieser Welt schauen. Dessen sollten wir uns stets bewusst sein.
Heike Brehmer (CDU/CSU) ist seit 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages und vertritt den Wahlkreis Harz. Der Fall der Mauer ermöglichte es ihr, sich kommunalpolitisch zu engagieren und später als Gemeindedirektorin für ihre Region tätig zu werden.
Dass am 9. November 1989 die Grenzen zwischen DDR und BRD geöffnet wurden, bedeutet vor allem eines: Mut kann – im wahrsten Sinne des Wortes – Mauern einreißen. Dass es den mutigen Menschen in der DDR, die mit ihren Protesten bei Weitem nicht die Mehrheit des Landes ausmachten, auf friedlichem Wege gelang, sich ihre Freiheit zu erkämpfen und das SED-Regime zu stürzen, ist für mich beispiellos in der Geschichte unseres Landes, Europas und der Welt. Das Land, in dem wir heute leben, würde ohne den 9. November 1989 nicht sein, was es ist. Seit diesem Tag weiß ich: Es lohnt sich für Freiheit ein- und aufzustehen. Immer und überall.
Am 9. November 1989, einem Donnerstag, saß ich in unserem Dorf in Thüringen und schaute auf dem Fernseher die Nachrichten. Ich musste den Fernseher mit einer Stopfnadel jedes Mal feinjustieren, damit er überhaupt lief. Mein Sohn schlief neben mir auf der Couch. Viele, die ich kannte, wollten möglichst schnell „rüber“, um mal zu gucken, um das Begrüßungsgeld abzuholen, um die neue Freiheit auszukosten. Ehrlich gesagt: Ich war nicht nur froh über die plötzliche Wendung der Geschichte. Nicht, weil ich die Freiheit nicht wollte. Natürlich wollte ich sie, ich war schließlich selbst dafür auf die Straßen gegangen. Aber ich hatte Sorge, dass jetzt alles, was wir als Bürgerbewegung an neuer Gestaltung wollten, vorbei wäre.
Ich war für Freiheit, aber auch für Veränderung auf die Straße gegangen. Ich wollte unser Land mitgestalten. Es ging dann alles sehr schnell. Mit unseren Vorschlägen, etwas Neues, Gemeinsames zu schaffen, drangen wir nicht durch. Aus heutiger Perspektive bin ich für unser Land froh, wie sich die Dinge fügten. Die Friedliche Revolution und der Sturz der Mauer haben mein Leben, meinen Weg komplett verändert. Statt Theologin zu werden, ging ich in die Politik. Ohne die Revolution damals wäre ich heute nicht die, die ich bin, und nicht da, wo ich jetzt stehe. Damals wollte ich mein Land verändern, heute will ich unser gemeinsames Deutschland noch besser machen.
Beim Einkommen, beim Vermögen, beim Erben oder bei der Ansiedlung von Industrie: Die innerdeutsche Grenze ist bis heute spürbar. Vieles hat sich nach der Wiedervereinigung verändert, das allermeiste zum Guten. Manche strukturellen Ungleichheiten sind aber nach wie vor nicht behoben. Im Grundgesetz ist die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse als Staatsziel festgesetzt. Aber was lange für eine Angleichung von Ost und West galt, muss heute für Stadt und Land generell gelten. Denn 35 Jahre nach dem Fall der Mauer ist klar: Wir sind ein Land. Und wir müssen die Herausforderungen im ganzen Land sehen und angehen.
Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen) ist seit 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages und war zum ersten Mal von 2005 bis 2013 dessen Vizepräsidentin. Seit 2021 ist sie es wieder. In der DDR ist sie für Freiheit auf die Straße gegangen – der Mauerfall gab ihr die Möglichkeit, die Politik zu ihrem Beruf zu machen.
Als Politiker aus dem Osten bedeutet mir der Mauerfall 1989 unendlich viel. Er markiert nicht nur das Ende der Teilung Deutschlands, sondern auch den Beginn einer neuen Ära voller Chancen und Herausforderungen. Als 24-jähriger DDR-Bürger war ich zum Zeitpunkt des Mauerfalls in einem prägenden Alter. Der 9. November 1989 war für mich wie für so viele DDR-Bürger ein Tag der Befreiung und ein symbolisches Ende der jahrzehntelangen Trennung zweier Staaten. Für mich persönlich war dieser historische Moment der Ausgangspunkt meiner beruflichen Neuorientierung und auch meines späteren politischen Engagements. Der Mauerfall bleibt daher ein emotionaler Meilenstein, der mir immer wieder verdeutlicht, wie kostbar Freiheit und Einheit sind.
Am 9. November 1989 war ich in Prenzlau zur Ausbildung und sah am Abend mit Kollegen die TV-Übertragung der Pressekonferenz, in der der DDR-Politiker Günther Schabowski versehentlich die sofortige Öffnung der innerdeutschen Grenze und der Berliner Mauer verkündete. Schabowski las eine neue Regelung zu Reiseerleichterungen vor und sagte auf Nachfrage, dass die Regelung „sofort, unverzüglich“ in Kraft trete. Dies führte dazu, dass noch am selben Abend tausende Ostdeutsche an die Grenzübergänge strömten und die Berliner Mauer de facto geöffnet wurde. Spontan entschieden meine Kollegen und ich, nach Berlin zu fahren, anstatt nach Hause. In der Invalidenstraße erlebten wir die Öffnung der Grenze hautnah. Es herrschte eine überwältigende Stimmung, geprägt von Jubel, Freude und Tränen. Fremde Menschen feierten zusammen, auch am Brandenburger Tor. Ein Unbekannter gab mir Hammer und Meißel, sodass ich mir ein Stück der Mauer als Andenken abschlagen konnte. Diese Erinnerung ist noch immer sehr präsent.
Der Mauerfall 1989 hat nicht nur mein Leben, sondern auch meinen beruflichen Werdegang grundlegend verändert. Damals war ich als Abteilungsleiter der Besamungstechniker in der Tierzucht tätig. Nach der Wiedervereinigung habe ich mich beruflich neu orientiert und den Vertrieb für Unternehmen aus dem Westen in den neuen Bundesländern aufgebaut. 1993 habe ich schließlich meine eigene LVM-Versicherungsagentur gegründet, die ich nun seit mehr als 30 Jahren erfolgreich führe. Der Mauerfall eröffnete mir somit völlig neue Möglichkeiten und legte den Grundstein für meine heutige Karriere. Außerdem wäre ich ohne die Grenzöffnung 1989 nie Bundestagsabgeordneter geworden. Dieser historische Wendepunkt hat mein Leben und meinen beruflichen Weg entscheidend geprägt. Über diese emotionale Erfahrung habe ich auch in meiner ersten Rede im Bundestag gesprochen. Die Ereignisse von damals haben mir Möglichkeiten eröffnet, von denen ich zuvor nicht zu träumen wagte, und mich letztlich auch in die Politik geführt.
Die Spuren der innerdeutschen Teilung sind auch 35 Jahre nach dem Mauerfall in vielen Lebensbereichen noch sichtbar. Trotz der massiven Investitionen in die neuen Bundesländer (den sogenannten „Aufbau Ost“) gibt es bis heute erhebliche wirtschaftliche Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland: Im Durchschnitt verdienen Menschen in Ostdeutschland immer noch weniger als im Westen, obwohl sich das Lohnniveau in den letzten Jahren angenähert hat. Außerdem ist die Bevölkerungsentwicklung in Ostdeutschland stark von der Abwanderung, insbesondere in den Jahren nach der Wiedervereinigung, geprägt. Dies führte zu einer Überalterung der Bevölkerung in einigen ostdeutschen Regionen. Viele Menschen in Ostdeutschland haben weniger Vertrauen in den Staat und staatliche Institutionen. Dies hängt oft mit den negativen Erfahrungen im sozialistischen DDR-Staat, aber auch mit den schwierigen Transformationsjahren nach der Wiedervereinigung zusammen. Diese Unterschiede sind bis heute in sozialen und gesellschaftlichen Verhaltensweisen spürbar.
Ingo Bodtke (FDP) ist seit 2021 Mitglied des Deutschen Bundestages und unter anderem Mitglied im Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft. Er wuchs in der DDR auf. Der Mauerfall bescherte ihm die Freiheit, sich beruflich neu zu orientieren.
Für mich ist damals ein Wunsch in Erfüllung gegangen, den ich eigentlich schon seit meiner frühen Jugendzeit in mir verspürt habe, nämlich dass das getrennte deutsche Volk wieder zusammenkommt. Und ich habe dies das erste Mal so wahrgenommen, als wir Anfang der 70er-Jahre einen Klassenausflug nach Berlin gemacht haben. Da stand ich das erste Mal an diesem Brandenburger Tor. Ich sah diese Mauer, ich sah diese Grenze und da wurde mir zum ersten Mal richtig bewusst, dass wir uns in einer geteilten Stadt mitten in einem geteilten Land befinden, in dem aber Menschen wohnen, die sich so ähnlich sind, die die gleiche Historie und teilweise noch enge verwandtschaftliche Verbindungen haben. Und ich habe damals gedacht: Diese Mauer wird keinen Bestand haben.
Ich habe zu dem Zeitpunkt schon seit ein paar Monaten in Baden-Württemberg gelebt, weil ich durch Heirat in den Westen gekommen bin. Ich saß vor Freude weinend vor dem Fernseher, als dort gezeigt wurde, dass die Mauer offen ist. Ich bin im Juni 1989 gemeinsam mit meinen Eltern ausgereist – nachdem wir bereits 1985 den Ausreiseantrag gestellt hatten – und meine Eltern haben sich natürlich auch über den Mauerfall gefreut, aber für sie war dieser Moment auch mit Wehmut verbunden. Denn ihre Ausreise aus der DDR war an die Bedingung geknüpft gewesen, dass sie ihre kleine wunderschöne Villa und das Grundstück in Thüringen, in das sie so viel ihrer Lebenskraft investiert hatten, unter Wert verkauften. Sonst wäre ihnen die Ausreise nicht erlaubt worden. Meine Mama hat das „den Preis der Freiheit“ genannt. Und dann tat dieser sehr nahe Zeitpunkt doch sehr weh und sie haben sich vielleicht gedacht: Hätte das nicht ein wenig früher passieren können oder hätten wir doch nur noch ein bisschen gewartet…
Ich empfand eine Riesenfreude über diese Befreiung. Für mich ist die Freiheit das Allerwichtigste. Das bezieht sich besonders auf die Reisefreiheit: Ich wollte gerne die ganze Welt bereisen. Aber auch das Ende der Unterdrückung der Meinungsfreiheit. Für mich war immer das Schlimmste, dass man öffentlich einfach nicht sagen konnte, was man denkt, dass man keine Kritik an den politischen Verhältnissen äußern durfte. Und diese Befreiung hat für mich natürlich schon stattgefunden, als ich in den Westen umgezogen bin. Aber durch den Mauerfall konnten dann auch endlich meine guten Freunde, Bekannten und Verwandten, die ich ja in der DDR zurücklassen musste, diese Freiheit haben. Mein Mann ist Zahnarzt, so wie ich, und nach meinem Umzug habe ich gleich in seiner Praxis angefangen zu arbeiten, und die Patienten wollten zuerst alle nicht zu mir, weil die dachten: „Die aus dem Osten, die kann ja nichts.“ Das fand ich irgendwie amüsant, aber es war natürlich auch eine Umstellung. Aber schon nach kurzer Zeit ist mir klar geworden, dass ich in der DDR eine viel bessere Ausbildung genossen habe, als mein Mann in der BRD, denn ich konnte Behandlungen durchführen, die er gar nicht konnte. Aber es hat eine Weile gedauert, bis die „Wessis“ sich gerne von mir behandeln ließen.
Was ich selbst an mir als Vertreterin der ostdeutschen Sozialisation festgestellt habe, ist, dass wir viel empfindlicher sind. Wir haben ein besseres Gespür für politische Entwicklungen. Ich glaube, es liegt daran, dass wir unserer DDR-Regierung nie vertraut haben. Wir haben alles hinterfragt. Wir wussten im Grunde genommen, dass wir belogen und betrogen wurden. Wir konnten nur nichts dagegen tun, weil die russischen Panzer da waren. Das hatten wir ja 1953 erlebt. (Anmerkung der Redaktion: Am 17. Juni 1953 fand in der DDR ein weitgehend friedlicher Volksaufstand statt, der gewaltsam niedergeschlagen wurde.) Das ist ja alles auch Geschichtswissen, was wir hatten, auch wenn ich erst 1956 geboren wurde. Und ich denke, dass das der Unterschied ist. Bei den „Wessis“ hat sich der Lebensstandard wirklich von Jahr zu Jahr immer weiter verbessert. Egal, welche Partei an der Macht war, es ging letzten Endes immer bergauf und deswegen haben die „Wessis“ ein Urvertrauen in Politiker. Auch mein Mann, der mit sehr vielen Dingen nicht einverstanden ist, kann sich bis heute nicht vorstellen, dass es tatsächlich Politiker gibt, die eigentlich zum Schaden der Bevölkerung handeln. Da haben wir „Ossis“ mit unserer Vergangenheit eine Art Instinkt entwickelt.
Christina Baum (AfD) ist Zahnärztin und seit 2021 Mitglied des Deutschen Bundestages und Mitglied im Gesundheitsausschuss. Sie wuchs in der DDR auf, zog aber im Sommer 1989 – also wenige Monate vor dem Mauerfall – durch Heirat nach Baden-Württemberg. Der Mauerfall bescherte dann auch ihren Freunden, die sie in der DDR zurücklassen musste, die Freiheit.
Das Interview zu 35 Jahre Mauerfall mit einem Vertreter der Gruppe Die Linke findet ihr in Kürze hier.
Der Jahrestag ist für mich mit einer Erkenntnis und Hoffnung verknüpft: Nichts ist für die Ewigkeit gebaut und Mauern lassen sich überwinden. Wenn „die oben“ nicht mehr können und „die unten“ nicht mehr wollen, kann es zu raschen Veränderungen kommen, die vorher kaum vorstellbar waren. Ich denke, der Mauerfall und die Proteste, die dazu beigetragen haben, sollten allen Eliten eine Mahnung sein: Gegen die Wünsche einer Mehrheit kann man nicht auf Dauer regieren. Die Menschen spüren, wenn die Regierenden sich in einer abgehobenen Blase bewegen und ihre alltäglichen Sorgen kaum noch zur Kenntnis nehmen. Besonders im Osten reagieren Menschen sehr sensibel, wenn ihnen heute wieder „von oben“ vorgeschrieben wird, wie sie zu leben, zu sprechen und zu denken haben.
Als die Mauer fiel, war ich zu Hause und habe Immanuel Kant „Kritik der reinen Vernunft“ gelesen. Ich wollte damals Philosophie studieren, was die DDR mir leider verwehrt hat, da ich als nicht angepasst galt. Trotzdem habe ich den Mauerfall zunächst nicht als Befreiung empfunden. Klar wollte ich gern reisen und mir Städte wie Paris, Rom oder Athen ansehen. Aber ich hatte Sorge, dass zusammen mit der DDR auch vieles „entsorgt“ wird, was ich gerne erhalten hätte. Es gab ja nicht nur Repression und übergriffiges Spitzeltum. Weil man für DDR-Geld vieles ohnehin nicht kaufen konnte, hatte Geld auch nicht einen so zentralen Stellenwert im Leben.
Ich konnte endlich studieren und habe diese Freiheit sehr genossen, für mich haben sich viele Türen geöffnet. Aber ich habe nach der Wende auch viele schlimme Schicksale mitbekommen. Die ökonomische Schocktherapie, die von der Treuhand organisiert wurde, hat unzählige Betriebe in kurzer Zeit platt gemacht. Es gab massenhafte Arbeitslosigkeit, Abwanderung und damit verbunden auch viel Verzweiflung, Enttäuschung und auch Gewalt. Wer etwas älter war, hat oft erlebt, dass seine Ausbildung und Erfahrung nichts mehr galt. Das wurde als demütigend empfunden – zumal fast alle Führungspositionen im Osten mit Leuten aus dem Westen besetzt wurden, das ist ja bis heute ein Problem.
Viele Menschen haben beim Mauerfall von Wohlstand und blühenden Landschaften geträumt, aber haben dann Industrieruinen bekommen und ihren Arbeitsplatz verloren. Zusammen mit den Erfahrungen in der DDR hat dies sicher dazu geführt, dass die Menschen im Osten kritischer sind. Sie hinterfragen, was die Regierung oder die Medien ihnen erzählen. Es gibt auch Reste eines Gemeinschaftsgefühls, das noch aus DDR-Zeiten herrührt, wo sich Nachbarn gegenseitig ausgeholfen haben und es viele Vereine und gemeinsame Aktivitäten gab. Es gibt aber auch mehr Unzufriedenheit, weil die sozialen Probleme ausgeprägter sind. Im Osten arbeitet jeder Dritte für einen Niedriglohn, die Renten sind noch niedriger als im Westen, in vielen Regionen gibt es kaum noch Ärzte und es fährt kein Bus mehr. Das sind alles Gründe, warum sich im Osten noch mehr Menschen von der Politik im Stich gelassen fühlen.
Sahra Wagenknecht (BSW) ist seit 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages. Nach der Auflösung der Bundestagsfraktion Die Linke, deren Vorsitzende sie von 2015 bis 2019 war, war sie zunächst fraktionslos, seit 2. Februar 2024 ist sie Mitglied der Gruppe BSW.