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Erfahrungsbericht 1464 Stunden im Bundestag

Vianne Uhl

Für Vianne geht Probieren über Studieren. Um den Deutschen Parlamentarismus nicht nur rein theoretisch, sondern auch praktisch zu verstehen, hat sie sich für ein Praktikum im Bundestag beworben. Hier berichtet sie, was sie in dieser Zeit gelernt hat.

Eine junge Frau mit langen braunen Haaren und dunkler Brille vor der Kulisse des Reichstagsgebäudes. Hinter ihr die deutsche Flagge in schwarz-rot-gold.

Vianne im Außenbereich der Fraktionsebene mit Blick auf die Dachterasse des Deutschen Bundestages. © privat

„Der Bundestag ist in der Bundesrepublik Deutschland das zentrale Organ des Bundesstaates mit unmittelbarer Legitimation“, erklärte mir mein Politikprofessor in einer meiner ersten Vorlesungen an der Uni – ziemlich abstrakt. Im Laufe meines Studiums durfte ich dann noch mehr über den Bundestag, seine Bedeutung und seine Vernetzung mit anderen Institutionen erfahren. Dabei entwickelte sich in mir die Neugier, selbst einmal zu sehen, wie es in diesem „zentralen Organ des Bundesstaates mit direkter Legitimation“ zugeht.

Für zwei Monate, genau 1464 Stunden, durfte ich bei meinem Direktabgeordneten, Bengt Bergt (SPD), aus der Heimat Berliner Luft schnuppern und dabei lernen, wie der Bundestag wirklich tickt – oft anders als in meinem theoretischen Politikunterricht beschrieben. Hier meine wichtigsten Erkenntnisse:

Arbeitsmarathon zwischen Wahlkreis- und Sitzungswochen

Zwischen einigen Tassen Kaffee, Ausschusssitzungen, Sprechzettel-Vorbereitungen, Arbeitsgruppensitzungen, dem Schreiben von Pressemitteilungen, Fotografieren, Workshops und einigen Früh- und Spätveranstaltungen wie „Parlamentarisches Frühstück“ oder „Parlamentarischer Abend“ bin ich in die Welt des Bundestages eingetaucht. Die Arbeit für Bundestagsabgeordnete erfordert aber nicht nur in den Sitzungswochen viel Zeit und Engagement, sondern auch in den Wahlkreiswochen, wenn der Chef oder die Chefin nicht in Berlin ist. Dann muss im Abgeordnetenbüro viel nach- und vorgearbeitet werden. In den Sitzungswochen selbst heißt es dann: Abliefern, neu sortieren, alles wieder umwerfen und weiter geht’s. Ein Job im Abgeordnetenbüro verlangt allen im Team eine Menge ab!

Abgeordnete sind auch nur Menschen

Als ich in meinem kleinen Dorf aufwuchs, waren Politikerinnen und Politiker immer nur auf Bildschirmen, aus der Ferne zu sehen. Hier in Berlin habe ich erlebt, dass Abgeordnete Menschen sind wie du und ich. Und genau das sollen sie als Vertreterinnen und Vertreter des Volkes auch sein. Für mich nahm diese Annahme aber erst so richtig Gestalt an, als ich mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Aufzug gefahren bin und Philipp Amthor (CDU/CSU) auf dem Flur begegnete.

Natürlich wissen Abgeordnete auch nicht alles. Um im Plenarsaal trotzdem fundierte Entscheidungen treffen zu können, gehören täglich etliche Expertenberichte und Gespräche mit Betroffenen zu den Aufgaben der Politikerinnen und Politiker, um sich ein möglichst genaues Bild von der Welt und dem Thema zu machen, mit dem sie sich beschäftigen.

Gesetze als Puzzleteile: Die Komplexität politischer Entscheidungen

Entscheidungen im Bundestag sind wie Puzzleteile, die in verschiedene Spannungsfelder passen müssen. Einfache Lösungen sind leider nie so einfach, wie man sich das wünschen würde. Ein Vorschlag wird nicht nur im Bundestag debattiert und abgestimmt, sondern muss sich auch in anderen Kontexten behaupten. Eine neue Idee muss daher auch auf Landesebene, in der EU, in Expertengruppen und in den Fraktionen überzeugen.

Ein Abgeordneter hat dabei immer auch seinen Wahlkreis im Blick. Er hat dann die Möglichkeit, im Austausch mit Sachverständigen im Ausschuss und mit seinen Fraktionskolleginnen und Fraktionskollegen (in der Arbeitsgruppe) die Positionen seines Wahlkreises deutlich zu machen – so funktioniert Demokratie.

Die Lobbyarbeit von Verbänden, Unternehmen und Auslandsvertretungen ist eine weitere Ebene in diesem Spannungsfeld. Sie wissen genau, welche Auswirkungen die Entscheidungen im Bundestag auf ihren Bereich haben, und sehen die Risiken und Vorteile viel genauer. Lobbyarbeit ist damit ein unverzichtbares Puzzlestück, das Unternehmen und Verbände bessere Chancen gibt, sich Gehör zu verschaffen – was unter Umständen aber auch zu monetären oder personellen Vorteile führen kann, die durchaus kritisch gesehen werden sollten.

Alle Erlebnisse aus meinen 1464 Stunden im Bundestag in einem Bericht unterzubringen, ist unmöglich. Es war eine unvergessliche Zeit, die mich sicherlich mehr als 1464 Dinge gelehrt hat. Aber die größte Lehre war für mich: Probieren geht über Studieren!

Eine junge Frau mit langen braunen Haaren und dunkler Brille vor der Kulisse des Reichstagsgebäudes. Hinter ihr die deutsche Flagge in schwarz-rot-gold.
Mitmischen-Autorin

Vianne Uhl

mitmischen-Autorin Vianne Uhl ist 21 Jahre alt und kommt aus dem schönen Schleswig-Holstein. Zurzeit studiert sie in Kiel interdisziplinär Sozio-Ökonomik, verbringt aber die meiste Zeit damit, sich überparteilich für Demokratie, Frieden und Menschenrechte einzusetzen. Für einen Cappuccino mit Hafermilch findet sie aber immer Zeit.

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