Wissenschaftler "Welches Europa wollen wir?"
Alisia Gahabka
Sie kann auseinanderfliegen oder auch viel besser werden: Die Europäische Union. Kurz vor der Europawahl am 26. Mai hat Alisia mit dem Politikwissenschaftler Dr. Nicolai von Ondarza gesprochen. Er hofft darauf, dass viele zur Wahl gehen und warnt vor Einflüssen von außen.
Europawahlen stießen bei den Wählern bislang eher auf begrenztes Interesse. Ist das in diesem Jahr anders?
Die meisten Beobachter hoffen, dass die Wahlbeteiligung steigen wird. Anders als in den vorigen Jahren haben die Europawahlen dieses Mal eine größere Bedeutung für die zukünftige Richtung der Europäischen Union (EU). Die Hoffnung ist daher, dass dadurch mehr Bürgerinnen und Bürger motiviert sind, zur Wahl zu gehen, um mit ihrer Stimme die Richtung der EU und deren Entwicklung mitzubestimmen.
Vor welchen Herausforderungen stehen die pro-europäischen Kräfte in Europa?
Es stehen in der EU in den nächsten Jahren wichtige Entscheidungen an. Da geht es beispielsweise darum, wofür Geld ausgegeben werden soll, also um den sogenannten mehrjährigen Finanzrahmen der EU. Andere Themen sind die Klimapolitik, der digitale Wandel und die Selbstbehauptung Europas in einer von den USA und China dominierten Welt. Außerdem gibt es in allen europäischen Staaten mittlerweile Parteien, welche die EU entweder abschaffen oder zumindest deutlich schwächen wollen.
Die pro-europäischen Kräfte müssen also zusammenarbeiten, um zu zeigen, dass sie die Europäische Union beibehalten wollen. Sie stehen aber auch vor der Herausforderung zu zeigen, dass es unterschiedliche Visionen der EU und verschiedene Angebote für die Wählerinnen und Wähler gibt.
Hat das EU-Parlament angesichts der EU-Skeptiker überhaupt noch Handlungsmöglichkeiten oder könnte es gar dazu kommen, dass es handlungsunfähig wird?
Schon 2014 haben die EU-skeptischen Parteien relativ stark abgeschnitten und etwa 20 Prozent der Sitze im EU-Parlament gewonnen. Sie sind aber in drei unterschiedliche Fraktionen aufgeteilt, die nicht gut miteinander zusammenarbeiten und deswegen wenig Einfluss auf die Politik des Parlamentes und der EU haben.
Wenn diese Gruppe nun noch größer wird und es ihnen gelingt, eine gemeinsame, große EU-skeptische Fraktion aufzubauen, dann würde dies dazu führen, dass es schwieriger wird, im Parlament Mehrheiten zu finden. Es würde möglicherweise schwieriger werden, eine neue EU-Kommission zu bilden, den Haushalt festzulegen oder Beschlüsse beispielsweise zu Handelsverträgen zu fassen.
Die Frage ist aber, ob sie mit mehr Verantwortung auch konstruktiver mitarbeiten, denn bisher haben sich die EU-skeptischen Parteien nur sehr begrenzt an der Politik beteiligt.
Welche Reformen braucht die EU, um wieder mehr Strahlkraft – und zwar nicht nur wirtschaftliche – zu entwickeln?
Ich glaube, die EU ist in einem Dilemma gefangen, wo ein Weg zurück nicht tragbar ist und ein Weg nach vorne zu mehr Zusammenarbeit durch viele Mitgliedsstaaten blockiert wird. Die Europäische Union braucht eine intensive Debatte, wie es der französische Präsident Emmanuel Macron vorgeschlagen hat, über die Zukunft Europas. Und es braucht Reformen in den Bereichen Sicherheit oder in der Sozialpolitik, um den Bürgerinnen und Bürgern den Mehrwert der EU zu zeigen. Nur dann wird die EU dauerhaft die Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger behalten.
Was passiert, wenn sich die EU als reformunfähig erweist? Ist ein Auseinanderbrechen der EU denkbar?
Die EU ist ein politisches Konstrukt, welches von den Mitgliedsstaaten getragen wird. Wenn die EU die Unterstützung der Mitgliedsstaaten und der Bevölkerung verliert, dann kann dieses politische Konstrukt zusammenbrechen. Wir haben in den letzten Jahren gesehen, dass die EU durch die Eurokrise und die Flüchtlingskrise in existenzielle Bedrohung geraten ist. Daher muss die EU in den nächsten Jahren zeigen, dass sie diese Krisen dauerhaft bewältigen kann, um weiter zu bestehen. Bisher hat die EU in den Krisen der letzten Jahre aber auch ihre Widerstandsfähigkeit bewiesen.
Was für Auswirkungen hätte ein Scheitern auf Europa, seine Staaten, deren Wirtschaft?
Es gibt hohe wirtschaftliche Kosten, denn bei einem Auseinanderbrechen der EU würde das Fundament des europäischen Wirtschaftssystems zerbrechen. Es gibt aber auch hohe politische Kosten, denn wir leben in einer Welt, in der kein europäischer Staat allein internationale Probleme wie beispielsweise den Klimawandel lösen kann.
Ein Europa, in dem die Europäische Union auseinanderbricht, würde sehr schnell zu einem Spielball der außereuropäischen Mächte wie der USA, China und Russland werden. Diese könnten versuchen, die europäischen Staaten gegeneinander auszuspielen. Europa würde dadurch massiv an internationalem Einfluss verlieren.
Zudem würden viele Freiheits- und Bürgerrechte verloren gehen, die wir alle genießen: die Freizügigkeit, in anderen Ländern zu studieren oder zu arbeiten, die Krankenversicherung zu nutzen oder ohne Einschränkungen in der EU reisen zu können.
Für wie real halten Sie die Gefahr, dass außereuropäische Kräfte wie Russland, China oder der ehemalige Trump-Berater Steve Bannon versuchen, Einfluss auf die Wahlen zu nehmen?
Das müssen wir als gegeben ansehen. Wir haben in den letzten Jahren klare Beweise gesehen, dass bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen, beim Brexit-Referendum und auch bei nachfolgenden nationalen Wahlen außereuropäische Gruppen versucht haben, auf die Wahlen Einfluss zu nehmen.
Die EU-Wahlen sind auch deshalb prädestiniert dafür, weil das Wissen über die Funktionsweisen der EU bei der Bevölkerung im Vergleich zu nationalen Wahlen deutlich geringer ausgeprägt ist. Das Potenzial für Desinformation rund um die Europawahl ist somit sehr hoch.
Das Mitspracherecht des EU-Parlaments ist begrenzt – müssten sich seine Befugnisse ändern, um mehr Menschen für Europa zu begeistern?
Ich argumentiere immer dafür, dass das Europäische Parlament mehr Kompetenzen bekommt. Man muss allerdings sehen, dass seine Mitspracherechte in den letzten Jahren schon deutlich gestiegen sind. Bei jeder Vertragsänderung, welche die EU gemacht hat, sind immer die Zuständigkeiten des Parlamentes ausgeweitet worden. Nicht nur beim Haushalt oder wichtigen Gesetzgebungsverfahren wie der Datenschutzgrundverordnung, sondern auch bei umstrittenen Handelsabkommen wie CETA oder TTIP bestimmt das Parlament voll mit.
Obwohl die Mitspracherechte des EU-Parlamentes immer größer geworden sind, ist die Wahlbeteiligung paradoxerweise weiter gesunken. Meiner Meinung nach ist es daher zu einfach, zu sagen, man müsse nur das Mitspracherecht des Parlaments ausweiten, damit das Interesse der Bevölkerung an der EU wieder steigt.
Was erhoffen Sie sich persönlich von der diesjährigen Europawahl?
Vor allem erhoffe ich mir eine intensive Debatte über die Zukunft Europas. Als Europäerinnen und Europäer sollten wir darüber diskutieren, welches Europa wir eigentlich wollen.
Welche Erwartungen und Prognosen halten Sie für realistisch?
Als Politikwissenschaftler erwarte ich, und so sehen es bisher auch die Prognosen, dass die zwei großen Fraktionen, die bisher die europäische Politik dominiert haben, nämlich die konservative Europäische Volkspartei und die europäischen Sozialdemokraten, ihre absolute Mehrheit im EU-Parlament verlieren werden. Dadurch haben wir dann ein fragmentiertes Parlament, in dem es schwieriger sein wird, Mehrheiten zu finden.
Über Dr. Nicolai von Ondarza:
Dr. Nicolai von Ondarza, 36, hat European Studies an verschiedenen europäischen Universitäten studiert. Er ist stellvertretender Leiter der EU-Abteilung bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin und außerdem Lehrbeauftragter im Master für Europawissenschaften an der Freien Universität Berlin.
Alisia Gahabka
Alisia Gahabka
ist Abiturientin