Rechtsexperte „Erhöhte Verpflichtungen für Deutschland“
Indigene Völker haben im Völkerrecht eine ganz spezielle Position. Warum die notwendig ist, hat uns Rechtswissenschaftler Helmut Aust erklärt.
Das erklärt sich, wenn wir uns den geschichtlichen Hintergrund ansehen. Indigene Völker haben jahrhundertelang Verdrängung, Marginalisierung, also Ausgrenzung, und Vernichtung erfahren. Der Grund dafür sind Kolonialisierungsprozesse: Wenn Menschen aus dem, was wir heute globalen Norden nennen, neue Kontinente und Länder entdeckt haben, sind sie der Bevölkerung vor Ort meist mit Gewalt begegnet, haben sie unterdrückt und teilweise vernichtet.
Aus dieser Dynamik ist eine Verwundbarkeit von indigenen Völkern und ihren Lebensformen entstanden. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass indigene Völker im heutigen Völkerrecht einen eigenen besonderen Status haben, sodass sie in ihrer kulturellen Identität und in ihren Lebensformen geschützt werden.
Das Völkerrecht regelt in erster Linie die Beziehungen zwischen Staaten. Außerdem gibt es andere sogenannte Völkerrechtssubjekte – also Akteure, die im Völkerrecht relevant sind –zum Beispiel internationale Organisationen. Zu den Akteuren gehört aber auch der Mensch, und jedem Einzelnen von uns stehen Menschenrechte zu.
Was indigene Völker aus völkerrechtlicher Sicht besonders macht, ist, dass es bei ihrem Schutz um kollektive Rechtspositionen geht. Ganze Gruppen haben hier eigene Rechtspositionen.
Gleichzeitig ist es genau das, was vielen indigenen Völkern wichtig ist. Denn den Angehörigen dieser Gruppen geht es nicht nur darum, sich einzeln auf Menschenrechte berufen zu können, sondern darum, dass sie in ihrer Form des Zusammenlebens geschützt werden. Und dieses zeichnet sich durch ihre Geschichte, ihre Traditionen und ihre besondere Beziehung zu dem Land, auf dem sie leben, aus.
Es gibt heute einen gewissen internationalen Standard, was den Schutz indigener Völker anbelangt. So gibt es eine wichtige UN-Erklärung über die Rechte indigener Völker aus dem Jahr 2007. In dieser Erklärung geht es etwa um die Beteiligung an bestimmten Infrastrukturprojekten oder um Rohstoffe, die auf dem Land der Völker vorhanden sind. Der Anspruch dieser Erklärung ist, dass sie für alle indigenen Völker auf der Welt gleichermaßen gilt.
Allerdings ist die Umsetzung dieser Punkte immer von dem jeweiligen lokalen Kontext abhängig. Denn nicht alle Staaten weltweit sind enthusiastische Befürworter der Rechtsposition indigener Völker. Es gibt außerdem auch regionaler Besonderheiten auf der rechtlichen Ebene: In Lateinamerika gibt es etwa andere Schutzstandards als in Afrika.
Theoretisch könnte man sagen, dass diese Rechte für alle Teile der Erde, in denen es indigene Bevölkerung gibt, gelten, ja. Aber nicht überall sind sich die Regierungen darüber einig.
Am eindeutigsten ist die Rechtslage in den sogenannten weißen Siedlerstaaten, also in den USA, in Kanada, Australien und Neuseeland. Wenn man noch einmal einen Blick in die Geschichte wirft, wird deutlich, dass der Unabhängigkeitsprozess dieser Staaten durch die weißen Siedler herbeigeführt wurde: Sie haben ihre Unabhängigkeit von dem vorherigen Mutterstaat, dem Vereinigten Königreich, erklärt. Für die First Nations, die indigenen Völker, die dort bereits gelebt haben, als die Siedler eintrafen, gab es nie einen Dekolonisierungsprozess. Im Gegenteil: Diese Völker sind kolonisiert worden.
Auch in Lateinamerika ist die Situation ähnlich. Aber in Afrika ist es beispielsweise komplizierter. Denn viele afrikanische Regierungen haben lange gesagt, dass dort alle Menschen gleichermaßen von der Kolonisierung betroffen gewesen seien. Deshalb ergebe es keinen Sinn, der indigenen Bevölkerung besondere Rechte zuzusprechen.
Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass es in Deutschland keine indigene Bevölkerung im Rechtssinn gibt, wobei die Sorben, die als nationale Minderheit anerkannt sind, aktuell versuchen, den Rechtsstatus als indigenes Volk zu erlangen.
Den Sorben, die sich um diesen Rechtsstatus bemühen, geht es darum, stärkere Mitspracherechte und eigene Entscheidungsbefugnisse, was etwa das Bildungssystem betrifft, zu bekommen. Es würde also beispielsweise auch darum gehen, das Überleben der sorbischen Sprache zu schützen, weil dies im Schulsystem gefördert werden könnte. So wie die Situation aktuell ist, fühlen sich einige Sorben sehr abhängig von den finanziellen Zuwendungen des Bundes und der Länder.
Ich könnte mir vorstellen, dass ein solcher Rechtsstatus auch Auswirkungen auf den Abbau von Braunkohle in der Lausitz hätte – dort leben die Sorben. Aber es ist sehr umstritten, ob die Sorben als indigenes Volk angesehen werden können.
Deutschland ist nunmehr an diesen völkerrechtlichen Vertrag gebunden. Im parlamentarischen Prozess vor der Ratifikation war damals erkennbar, dass die Bundesregierung eigentlich davon ausging, dass sich in Deutschland durch die Ratifikation nicht viel ändern würde. Das wirft die Frage auf, ob es hier um reine Symbolpolitik ging.
Ich bin der Meinung, dass sich durch die Ratifikation etwas verändert hat, auch wenn davon ausgegangen wird, dass wir keine indigene Bevölkerung auf deutschem Staatsgebiet haben. In Fragen der Entwicklungszusammenarbeit oder auch, wenn deutsche Staatsunternehmen wie die Deutsche Bahn im Ausland an Infrastrukturprojekten beteiligt sind, bestehen durch die Konvention erhöhte Verpflichtungen: Es muss darauf geachtete werden, dass durch diese Projekte keine Beteiligungs- und Landrechte von indigenen Völkern verletzt werden.
Helmut Aust
Helmut Aust kommt aus Isernhagen, Niedersachsen. Er studierte Rechtswissenschaft in Göttingen und Paris. Neben Forschungsaufenthalten in Cambridge und Melbourne arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin, wo er 2016 auch habilitierte. Seit 2016 ist er Universitätsprofessor für Öffentliches Recht und die Internationalisierung der Rechtsordnung an der Freien Universität Berlin.