Demokratie-Projekt „Wir leben mitten in der Politik, alle, jeden Tag“
Happy Birthday! Vor 73 Jahren trat das Grundgesetz in Kraft. Mit seinen Werten beschäftigen sich Jugendliche beim Projekt „Die Verfassungsschüler“, für das der Bundestag einst grünes Licht gab. Hier erzählen Malik und Erwin, warum sie dabei sind.
„Ich komme aus einem Land, wo Politik ganz anders läuft als hier“, sagt Malik (17). Er ist vor fünf Jahren aus Syrien geflohen, wo seit 2011 Krieg herrscht. Syrien ist kein freies Land. Die Regierung verfolgt dort Menschen, die eine andere Meinung vertreten. Deshalb hat Malik wohl auf manche Dinge eine andere Perspektive als andere in seinem Alter. Das hat er zum Beispiel gemerkt, als er mit seinen Mitschülern über das Thema Wehrpflicht diskutierte. „Da waren alle gegen mich“, erzählt Malik. „Die haben gesagt: Wir wollen Frieden. Ja, will ich auch – aber an der Ukraine sieht man doch, dass man eine Armee auch zum Selbstschutz braucht.“
Malik ist einer von elf „Verfassungsschülern“ an der 107. Oberschule in Dresden. Einmal pro Woche treffen sie sich, um über Politik zu reden. Mal geht es um den Krieg in der Ukraine, mal um Gleichberechtigung, mal um Digitalisierung. Und immer geht es direkt oder indirekt um die Werte des Grundgesetzes, unserer Verfassung. Und da die heute vor genau 73 Jahren in Kraft trat, traf mitmischen-Redakteurin Julia einige Teilnehmer des Projektes „Die Verfassungsschüler“.
Mehr über „Die Verfassungsschüler“
Das Projekt gibt es derzeit in Sachsen, Berlin und Nordrhein-Westfalen. Dort werden Demokratie-Scouts ausgebildet, die dann Gruppen von Jugendlichen begleiten. „Die Verfassungsschüler“ ist ein Projekt von Teach First Deutschland, einer Organisation, die Hochschulabsolventinnen und -absolventen für zwei Jahre als Fellows deutschlandweit an Brennpunktschulen schickt. Das Projekt wird aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat gefördert.
Meinungsverschiedenheiten ohne Stress
„In Syrien darf man nicht einfach seine Meinung äußern“, erzählt Malik. Deshalb findet er es toll, dass sie bei den „Verfassungsschülern“ genau das machen: Meinungen austauschen. Und zwar in moderierten Diskussionen. „Auf der Straße hätte ich bei solchen Themen Angst, alles zu sagen, was ich denke, weil es dann vielleicht Stress gäbe.“ Aber hier lernen sie, wie man seine Meinung so sagt, dass man niemanden kränkt – und die anderen vielleicht sogar überzeugt.
Bei der Wehrpflicht-Diskussion war Malik übrigens noch in einem anderen Punkt anderer Meinung als die anderen: „Die meinten, ein Jahr bei der Armee sei verschwendete Zeit. Aber ich denke: Ihr lebt hier, viele Menschen arbeiten hier dafür, dass ihr ein gutes und friedliches Leben haben könnt – und ihr seid nicht mal bereit, ein Jahr herzugeben?“
Teilhaben an der Demokratie – auch ohne deutschen Pass
In der Schule ist für solche Diskussionen wenig Zeit. Da gehe es kaum mal um aktuelle Politik. „Wir haben zwar bei der Jugendwahl mitgemacht“, erzählt Malik. „Aber wir haben nie darüber geredet: Was wäre denn, wenn diese oder diese Partei die Wahl gewinnt?“
„Das ist ein Privileg, nicht auf den Lehrplan achten zu müssen“, sagt Semmi. Er ist der „Demokratie-Scout“ der Gruppe und hat das Projekt an die Schule gebracht. Eigentlich kommt Semmi aus Stuttgart, aber seit zwei Jahren ist er als Fellow in Dresden. Von den „Verfassungsschülern“ hatte er schon gehört, als das Projekt noch in der Pilotphase war – und er bekam sofort Lust, mitzumachen. „Ich finde es total wichtig, dass Jugendliche den Raum kriegen, über Themen zu diskutieren, für die im Unterricht nicht genug Zeit ist“, erklärt er.
Was er an „seinen Verfassungsschülern“ toll findet: „Wir sind eine ganz diverse Gruppe, mit Schülerinnen und Schülern aus verschiedenen Ländern. Viele haben keinen deutschen Pass, sie werden also hier nicht wählen können, wenn sie 18 sind. Aber sie können trotzdem an der Demokratie partizipieren – das will ich ihnen mitgeben.“
Malik sieht es so: „Wir leben mitten in der Politik, alle, jeden Tag. Wir spüren die Gesetze, also will ich auch wissen, warum sie so sind, wie sie sind.“
Besuch im Innenministerium und im Auswärtigen Amt
Um das herauszufinden, diskutiert die Gruppe nicht nur. Sie macht auch Ausflüge an politische Orte. Im Kongresszentrum in Dresden kamen „Verfassungsschüler“ aus Berlin, Nordrhein-Westfalen und Sachsen zur Demokratie-Konferenz zusammen. „Das war gut, mal mit anderen zusammenzukommen und deren Meinungen zu hören“, sagt Malik. „Normalerweise redet man ja mit seinen Freunden nicht so viel über Politik.“
Im Juni geht es nach Berlin. Dort werden die Jugendlichen das Innenministerium besuchen, das das Projekt fördert. Und ein Besuch im Auswärtigen Amt ist auch eingeplant – auf Wunsch von Erwin.
Erwin ist 15 und wie Malik in der 9. Klasse. Er möchte später im diplomatischen Dienst arbeiten. Warum? „Mein Traum ist es, die Welt zu bereisen. Und wenn ich dabei noch etwas Sinnvolles arbeiten kann, umso besser.“ Jetzt hat er sich erst mal für eine Ausbildung zum Verwaltungswirt beworben. Bald fährt er zum Eignungstest nach Bayern. Und vielleicht wird er ja irgendwann sogar mal Botschafter, sagt Erwin. Wo, ist egal – „ich will möglichst viel von der Welt sehen.“
Engagement im Jugendbeirat, einer Partei oder in der Flüchtlingshilfe
Dass die Schüler und Schülerinnen ihre Interessen einbringen, gehört zur Idee des Projekts. Idealerweise finden sie im Laufe des Projekts für sich heraus, in welchem Bereich sie sich politisch engagieren möchten. Erwin hat schon angefangen: Er macht im Jugendbeirat des Projekts mit. Mit drei anderen organisiert er gerade die Reise nach Berlin. „Da bist du plötzlich der Verantwortliche“, sagt er. Anstrengend, aber auch sehr spannend.
Und Malik hat zwei Ideen. Er kann sich gut vorstellen, in einer Partei aktiv zu werden. Aber erst will er sich noch intensiver damit beschäftigen, wofür die Parteien stehen. Da passt es gut, dass die Gruppe demnächst Rasha Nasr trifft, die für die SPD im Bundestag sitzt. Da will er auf jeden Fall nachfragen.
Dann würde Malik auch gerne in der Flüchtlingshilfe aktiv werden. Er spricht fünf Sprachen. „Das könnte da bestimmt ganz hilfreich sein“, meint er.
Malik will nach dem Abschluss an ein berufliches Gymnasium gehen und später Zollbeamter werden. „Ich kommuniziere gerne mit Menschen. Und es macht mir Freude, Menschen zu helfen und sie zu beschützen.“
Gespräche gegen Vorurteile
In Berlin will die Gruppe auch das Holocaust Mahnmal anschauen, also das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in der historischen Mitte Berlins, das an die rund sechs Millionen Juden erinnert, die unter der Herrschaft Adolf Hitlers und der Nationalsozialisten ermordet wurden. Das war Semmis Idee. Er findet das Thema Antisemitismus wichtig. Deshalb hat er auch angeregt, am Projekt „Meet a Jew“ teilzunehmen. Vor ein paar Tagen war ein junger jüdischer Mann aus Berlin zu Besuch. Er kam extra nach Dresden, um sich zwei Stunden lang mit den Jugendlichen über den jüdischen Glauben und jüdisches Leben in Deutschland zu unterhalten.
Auch von Vorurteilen und Angriffen hat er gesprochen. Das beschäftigt Erwin immer noch: „Dass jemand sich Beschimpfungen anhören muss, einfach nur weil er ein Jude ist, das ist doch schlimm. Traurig ist das.“ Beide Jungs sind sich einig: Gute Menschen gibt es in jeder Religion. Und schlechte auch. „Jeder Mensch ist doch anders“, sagt Malik. „Wenn ein Deutscher mir zum Beispiel etwas Böses tut, sind deshalb doch nicht gleich alle Deutschen böse.“
Glaubensfreiheit, Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung – das sind wichtige Grundrechte, die in der deutschen Verfassung verankert sind. Die „Verfassungsschüler“ sitzen nicht zusammen und lesen aus dem Grundgesetz vor. „Das wäre ja wie Schule“, sagt Malik und grinst. Er und die anderen lernen demokratische Werte nicht auswendig. Sie lernen sie im Dialog kennen.
(jk)
Vor 73 Jahren, am 24. Mai 1949, trat das Grundgesetz in Kraft. In unserem Video erfahrt ihr mehr darüber: