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Ermittler „Was in Chats passiert, ist erschreckend“

Ermittler Holger Kind erklärt, wie das BKA gegen sexuelle Belästigung im Internet vorgeht, welche Schwierigkeiten es dabei gibt und warum er sich wünscht, Influencer würden mehr darüber sprechen.

Nahaufnahme von einem Laptop und Hand, die Notizen macht

Manchmal begeben sich Ermittler als ‚Scheinkinder‘ in Chats, um zu sehen, was echte Kinder dort erwartet. © shutterstock.com/TippaPatt

Was genau ist Cybergrooming?

Das bedeutet, dass Erwachsene sich im Internet gezielt an Minderjährige wenden, um sexuelle Kontakte anzubahnen. Es ist also eine Handlung zur Vorbereitung eines sexuellen Missbrauchs.

Was kann das für Folgen für minderjährige Opfer haben?

Das hängt davon ab, wie weit der Täter in seinen Absichten kommt. Er umgarnt erst mal das Opfer, versucht, sich mit ihm anzufreunden, macht ihm Komplimente, verschenkt zum Beispiel Gutscheine für Amazon oder fürs Handy, täuscht gemeinsame Hobbys vor. So eine Anbahnung führt oft dazu, dass der Täter das Opfer dazu bringt, Fotos oder Videos in sexuellen Posen von sich zu verschicken. Das kann wiederum dazu führen, dass der Täter das Opfer erpresst und sagt: Wenn du dich nicht mit mir triffst, schicke ich deine Nacktbilder an alle deine Facebook-Freunde oder an deine Eltern.

Und wenn es tatsächlich zu einem Treffen kommt?

Es gibt eine Studie der Uni Regensburg aus dem Jahr 2015, die MiKADO-Studie, die besagt: Wenn infolge von Cybergrooming ein reales Treffen stattfindet, dann kommt es auch immer zu sexuellem Missbrauch.

Wie viele Fälle von Cybergrooming gibt es im Jahr?

Im letzten Jahr waren es 2.439 Fälle. Und seit 2012 ist die Zahl konstant gestiegen. Das sind allerdings nur die Fälle, die bei der Polizei bekannt werden, in der Regel durch eine Anzeige. Wir nennen das Hellfeld. All das, was passiert, aber nicht angezeigt wird, können wir natürlich nicht erfassen – das ist das Dunkelfeld, die Dunkelziffer. Und die ist gerade im Bereich Cybergrooming sehr hoch. Kinder, die so weit gebracht worden sind, Nacktbilder von sich zu erstellen, schämen sich natürlich, sich ihren Eltern zu offenbaren. Laut der Mikado Studie hatte etwa jeder 20. der befragten Erwachsenen bereits einen sexuell motivierten Online-Kontakt mit ihm unbekannten Kindern oder Jugendlichen.

Wenn es zu einer Anzeige kommt, wie gehen Sie dann vor?

Zunächst prüfen wir natürlich, ob ein strafbares Verhalten des Täters vorliegt. Und dann liegt es ganz entscheidend daran, welche Informationen wir über den Sachverhalt erhalten. Das kann zum Beispiel ein Nutzername oder eine IP-Adresse sein, wenn Chat-Verläufe protokolliert wurden. Klassischerweise finden solche Gespräche ja auf Chat-Plattformen oder über Chat-Apps auf Mobiltelefonen statt. Leider sind wir bei unseren Ermittlungen relativ stark eingeschränkt. Denn in Deutschland müssen Internetanbieter derzeit keine Verbindungsdaten auf Vorrat speichern. Dadurch erlangen wir in vielen Fällen zwar Kenntnis von Straftaten im Bereich des Cybergroomings oder auch der Kinderpornografie, können jedoch die Täter nicht ermitteln.

Ist es gängig, dass Ermittler sich als „Scheinkinder“ in Chats einloggen und so tun, als wären sie selbst Minderjährige?

Das ist eine geeignete Möglichkeit, das angesprochene Dunkelfeld aufzuhellen. In den letzten Jahren gab es größere Einsätze, bei denen das unter Berücksichtigung der geltenden Gesetzesvorschriften gemacht wurde: Polizisten begaben sich als vermeintliche Kinder in solche Chats und bekamen dadurch ein realistisches Bild davon, was Kindern dort widerfährt. Und das ist erschreckend. Ich habe das anlassbezogen auch schon einmal gemacht und hatte nach vier Sekunden die erste Anfrage und nach vier Minuten um die 20 Anfragen offenkundig erwachsener Männer, die ein ihnen unbekanntes Kind mit einer erkennbar sexuell motivierten Zielrichtung angesprochen haben.

Der Gesetzentwurf der Regierung sieht vor, dass in Zukunft auch schon bestraft werden soll, wer nur denkt, dass er im Netz mit einem Minderjährigen kommuniziert – auch wenn es in Wahrheit ein verdeckt ermittelnder Polizeibeamter ist. Wie sehen Sie das?

Wir begrüßen das sehr und fordern es auch schon seit einigen Jahren. Wenn ich dieses Problem bekämpfen möchte, dann muss ich mich selbst in diesen Bereich begeben – und werde eine Vielzahl von Fällen feststellen, die ich dann auch verfolgen kann. Und das wird sich über kurz oder lang in der Öffentlichkeit herumsprechen. Täter müssen erkennen, dass ihr Verhalten Folgen hat.

Was kann man sonst noch tun?

Wir können dieses Problem als Polizei nicht alleine lösen. Wir brauchen unbedingt präventive Maßnahmen. Kinder müssen in einem frühen Alter über die Risiken von Cybergrooming aufgeklärt werden. Das muss im Elternhaus und natürlich in der Schule passieren. Ein Schulfach Medienkompetenz, das solche Themen miteinschließt, wäre sehr sinnvoll. Wichtig wären aber auch neue Vorbilder: Youtuber, Blogger, Influencer – das sind Personen, auf die Kinder und Jugendliche hören. Es wäre toll, wenn sie das Thema verstärkt aufgreifen würden.

Tragen auch die Anbieter von Kinder-Chats Verantwortung?

Sie müssen sich bewusst darüber sein, dass sie auch Risiken schaffen. Aus unserer Sicht müssten die Anbieter Vorkehrungen treffen, um besser geschützte Räume für Kinder zu schaffen. Technische Möglichkeiten gäbe es schon, beispielsweise das Video-Ident-Verfahren. Dadurch könnte man verifizieren, dass nur Kinder im Chat sind. Zumindest aber müsste es eine konsequente und schnelle Möglichkeit geben, Auffälligkeiten zu melden, so dass die Informationen über Verdachtsfälle auch schnell und möglichst vollständig zur Polizei kommen.

Über Holger Kind

Holger Kind leitet seit 25 Jahren ein Sachgebiet in der Zentralstelle Kinderpornografie im Bundeskriminalamt. Er war als Experte eingeladen, als der Rechtsausschuss über den Gesetzentwurf zum Thema Cybergrooming diskutierte.

(jk)

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