Lesung "Staat ohne Gott" Religion ganz privat
In religiösen Fragen sollte der Staat neutral bleiben, argumentiert der Verfassungsrechtler und Autor Horst Dreier. Sein neues Buch "Staat ohne Gott" hat er in der Bibliothek des Bundestages vorgestellt. Yannic war dort.
"Marktschreierisch"
Es sticht einem direkt ins Auge: das rote Buchcover mit der weißen Schrift "Staat ohne Gott". Schon die Signalfarbe und der Titel weisen beim Betreten des Lesesaals der Bundestagsbibliothek darauf hin, dass das Publikum bei dieser Lesung am Abend des 5. November eine streitbare Position zu erwarten hat.
Dabei räumt der Autor Horst Dreier selbst ein, dass ihm die Überschrift anfangs viel zu "marktschreierisch" vorgekommen sei. Letztlich treffe sie aber genau das, was der Würzburger Verfassungsrechtler mit seiner Abhandlung über das Verhältnis zwischen Staat und Religion sagen will. Ihm gehe es nicht darum, für eine Gesellschaft oder einen Mensch ohne Religion zu werben. Stattdessen will Dreier aufzeigen, warum lediglich der Staat auf Gott verzichten solle.
Eine der größten der Welt
Etwa 70 Interessierte hat das Thema in die Bibliothek des Parlaments gelockt. Einige der Besucher, die auf ihrem Weg durch die Sicherheitsschleuse müssen, schauen sich im Inneren des Lesesaals erst einmal um. Denn die mehrstöckige Bibliothek gehört mit ihrem Bestand zu den größten Parlamentsbibliotheken der Welt. Gleichzeitig kann sie sich mit ihrer zylinderförmigen Glasfassade sehen lassen.
Schäuble stellt vor
Diese fällt auch Horst Dreier auf, der offenbar ebenfalls zum ersten Mal hier ist. Neben den auswärtigen Besuchern der Lesung nehmen auch einige Mitarbeiter des Bundestags an den im Halbkreis angeordneten Lesetischen Platz. Vor ihnen Horst Dreier und zu seiner Linken Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU), der Werk und Autor zu Beginn knapp vorstellt.
Zündstofffrei
In seiner Einführung versucht Schäuble sogleich den politischen Zündstoff aus der gelegentlich hitzigen Auseinandersetzung um Staat und Religion zu nehmen. Er betont, dass Dreiers Buch keine Positionierung zur aktuellen Streitfrage um das Kopftuchverbot in öffentlichen Einrichtungen ist.
Stattdessen schließt sich Schäuble der Rezension des Rechtswissenschaftlers Christoph Möller an, der Horst Dreiers "Staat ohne Gott" als eine zeitlose Analyse beschreibt. Eine Analyse, mit der sich sowohl religiöse Menschen anfreunden können als auch jene, für die Gott keine Rolle im Leben spielt.
Auch für Nichtjuristen verständlich
Für Dreier ist die Religionsfreiheit des Einzelnen eine Seite der Medaille, auf deren Rückseite die Neutralität des Staates in religiösen Fragen steht. Dreier macht die Bundestagsbibliothek an diesem Abend zu einem kleinen Hörsaal, wenn er die Verfassungsgeschichte der weltanschaulichen Neutralität über mehrere Stationen bis zum Grundgesetz nachverfolgt. Dennoch bleibt er in seinem gut halbstündigen Überblick über die sechs Kapitel seines Buchs auch für Nichtjuristen verständlich.
Er zeigt, dass die religiöse Neutralität den Staat heute zu politischen Entscheidungen verpflichte, die sowohl im Sinne aller Konfessionen, also Religionen, als auch vor Konfessionslosen begründbar sein sollen. So dürfe sich der Staat auch nicht mit einer spezifischen Religion identifizieren. Erst durch diese staatliche Zurückhaltung sei es allen Religionen möglich, sich frei zu entfalten.
Keine Kreuze für Bayern
Dass Dreier nach diesen verfassungsrechtlichen Ausführungen nicht vor einer Positionierung zu politischen Zeitfragen verschont bleibt, weiß er selbst. So bezieht er auch an jenem Abend noch einmal klar Stellung zum bayrischen Kreuzerlass. Demzufolge soll seit dem ersten Juni diesen Jahres im Eingangsbereich jeder bayrischen Behörde ein Kreuz hängen.
Dreier hält den Kreuzerlass für verfassungswidrig – wegen des Gebots der weltanschaulichen Neutralität. Schäuble lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Auch wenn Dreier kurz abwartet, ob sich CDU-Mann Schäuble nicht doch hinreißen lässt zu einer Aussage über das Verhältnis der bayrischen Schwesterpartei CSU zur Religion.
Fast Richter ganz oben
Der Bundestagspräsident kennt den Verfassungsrechtler schon als streitbare Stimme. 2008 wäre Dreier fast Richter am Bundesverfassungsgericht geworden und hätte damit seinen unauffälligen Anzug, den er an diesem Abend trägt, gegen die rote Richterrobe eintauschen müssen. Mit dieser wäre er in Fernsehberichten mindestens genauso ins Auge gestochen, wie an diesem Abend mit dem Cover seines Buchs.
Bei einer Verfassungsklage hätte er dann selbst mitentscheiden können, ob der Kreuzerlass in Bayern verfassungswidrig ist. Doch Dreier ist damals über zwei seiner Positionen gestolpert: Einerseits über seine liberale Haltung zum Embryonenschutz. Andererseits über die Ansicht, dass in Ausnahmefällen das Folterverbot diskussionswürdig sei.
Tabuthema Islam
Heute Abend muss sich Dreier in Berlin einer dreiviertelstündlichen Frage- und Diskussionsrunde stellen. Dabei interessiert das Publikum vor allem, wo die Freiheit der Religion aufhöre und wo der Staat einzugreifen habe. Viele beziehen sich in ihrer Argumentation lieber auf die Zeugen Jehovas, da diese weniger politischen Zündstoff bieten, als beispielweise Debatten über die Ungleichbehandlung von Mann und Frau im Islam.
Keine Noten für Religionen
Dreier bleibt auch in diesen Fällen konsequent. Verfassungsrechtlich spiele es keine Rolle, ob religiöse Vorstellungen dem Grundgesetz zuwiderlaufen oder nicht. Zu allen Religionen müsse der Staat seine weltanschauliche Neutralität wahren. Zumindest solange mit den religiösen Vorstellungen keine tatsächlichen Gesetzesbrüche einhergingen. Der Staat hätte schließlich an Religionen keine "Noten zu vergeben oder eine buchhalterische Bilanz zu führen".
Horst Dreier: Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne. Verlag C.H. Beck. München 2018. 256 Seiten, 26,95 Euro.