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Grundrechte „Der Staat muss abwägen“

Laura Heyer

Der Staat muss eine Pandemie bekämpfen – und gleichzeitig die Freiheitsrechte der Bürger schützen. Warum es viel Wirbel rund um die jüngsten Gesetzesänderungen zu den Corona-Maßnahmen gab, erklärt Juristin Andrea Kießling.

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Dr. Andrea Kießling hat als Sachverständige mit den Abgeordneten diskutiert.©privat

Bundestag und Bundesrat haben mit deutlicher Mehrheit eine Reform des Infektionsschutzgesetzes beschlossen. Damit sollen die Corona-Maßnahmen eine neue rechtliche Grundlage erhalten. Um die Änderungen gab es im Vorfeld großen Streit. Warum?

Alle Maßnahmen gegen die Corona-Krise stützen sich auf das Infektionsschutzgesetz. Die Reform war notwendig, weil es dort bislang nur eine sehr vage, kurze Vorschrift gab, die nicht auf Epidemien zugeschnitten war. Streit gab es über die Frage, wie detailliert nun die Gesetzesänderung sein sollte.

Die Bundesregierung hatte zuerst nur vorgeschlagen, eine neue Vorschrift einzufügen: den § 28a, von dem schon so viel in den Medien die Rede war. Dort werden 15 verschiedene Schutzmaßnahmen aufgezählt, die im Kampf gegen Corona ergriffen werden können. Diese werden aber nicht genau eingegrenzt. Viele Expertinnen und Experten waren der Ansicht, dass diese Änderung des Gesetzes nicht ausreicht, weil sie zu oberflächlich ist.

Auch in den Medien wurde viel über das Gesetz berichtet …

Ja, das war außergewöhnlich und hatte unter anderem damit zu tun, dass in manchen Kreisen das Gesetz als „Ermächtigungsgesetz“ bezeichnet wurde. Das soll auf 1933 anspielen, als die Nationalsozialisten durch ein Gesetz die Ermächtigung erlangten. So konnten sie ohne Zustimmung von Reichstag und Reichsrat und ohne Gegenzeichnung des Reichspräsidenten Gesetze erlassen.

Dieser Vergleich ist aber Unsinn: § 28a Infektionsschutzgesetz soll ja die rechtliche Situation verbessern. Die neue Regelung ändert nichts daran, wie hierzulande ein Gesetz zustande kommt. Das Gesetzgebungsverfahren bleibt, wie es ist.

Der Gesetzentwurf wurde im parlamentarischen Verfahren verändert. Was halten Sie von den beschlossenen Neuerungen?

Gut finde ich, dass die Corona-Schutzmaßnahmen nun begründet werden müssen. Das war in der Regel bislang nicht der Fall. Deswegen war nicht immer klar, was genau das Ziel der Maßnahmen war, also zum Beispiel nur die Verhinderung der Überlastung der Krankenhäuser oder aber eine Eindämmung der Pandemie in größerem Umfang.

Unklar bleibt auch, wieso manche Betriebe schließen mussten, etwa Tattoo-Studios, und andere nicht, zum Beispiel Frisöre. Die Gerichte können die Entscheidung der Regierung über neue Maßnahmen in Zukunft also besser überprüfen.

Aber ich habe auch Kritikpunkte: Ich bin nach wie vor der Meinung, dass es nicht genügend Grenzen für die Behörden gibt.

Was meinen Sie damit?

§ 28a nennt jetzt z.B. ausdrücklich die Möglichkeit, dass nächtliche Ausgangssperren verhängt werden dürfen. Das geht meiner Meinung nach zu weit, solche Ausgangssperren sind verfassungsrechtlich nicht zulässig. Und bislang wurde darüber ja in Deutschland auch nicht diskutiert. Da wurden die Möglichkeiten der Behörden also erweitert. Ich hätte mir eine Begrenzung gewünscht: also eine Regelung, die manche Maßnahmen ausdrücklich ausschließt.

Bei den Corona-Maßnahmen geht es immer auch um eine Abwägung zwischen Gesundheitsschutz und Freiheitsrechten. Kann es da überhaupt ein Richtig oder Falsch geben?

Der Staat kann schon zu wenig oder zu viel machen: Wenn er die Freiheitsrechte so hoch einschätzt, dass er der Epidemie ihren Lauf lässt, würde er gegen die Verfassung verstoßen. Und andersherum: Wenn er jede Ansteckung verhindern wollte, müsste er die Menschen mehr oder weniger zu Hause einsperren. Das wäre auch verfassungsrechtlich unzulässig. Aber es gibt natürlich einen Graubereich in der Mitte, in der der Staat abwägen muss und abwägen darf und es ist gar nicht so einfach zu sagen, wo dieser Bereich anfängt und aufhört.

Kritiker sagen, das Parlament lasse der Regierung zu viel Spielraum bei den Corona-Maßnahmen und müsse selbst mehr entscheiden. Wie beurteilen Sie das?

Die Bundesregierung ist rechtlich betrachtet gar nicht zuständig dafür, über die Corona-Maßnahmen zu entscheiden. Sondern die Entscheidung, wie die Maßnahmen umgesetzt werden, liegt bei den Landesregierungen. Aber tatsächlich ist es natürlich so, dass die Bundeskanzlerin versucht, sich mit den Bundesländern abzustimmen. Diese Abstimmung ist aber rein politischer Natur und führt zu keinen rechtlichen Konsequenzen.

Der Bundestag wiederum kann nur die Leitlinien für die Länder vorgeben, indem er im Infektionsschutzgesetz regelt, was die Länder machen dürfen und was nicht. Und da sind wir wieder bei der ersten Frage: Es ist streitig, wie eng und wie detailliert diese Leitplanken im Gesetz sein müssen. Meiner Meinung nach hätte das Parlament mehr regeln müssen.

Wie könnte das aussehen?

Wenn man nicht das Infektionsschutzgesetz detaillierter fassen will – dagegen hat man sich ja entschieden –, könnten auf Landesebene die Parlamente mehr einbezogen werden, indem über die Rechtsverordnungen, die die Landesregierungen formulieren, im Parlament abgestimmt wird. Das Grundgesetz sieht die Möglichkeit vor, dass solche Verordnungen durch das Parlament als Gesetze verabschiedet werden.

Dann könnte im Parlament vor der Festlegung der Corona-Schutzmaßnahmen darüber debattiert werden, welche Maßnahmen notwendig sind. Bislang waren die Bundesländer bei dieser Möglichkeit aber sehr zögerlich. Es bleibt abzuwarten, ob sie sie in Zukunft mehr nutzen werden.

Sie sind Juristin und wurden als Expertin unter anderen zu dem Gesetzentwurf angehört. Wie haben Sie das Verfahren erlebt?

Das Verfahren war sehr, sehr kurz. Das fing damit an, dass wir nur sehr wenig Zeit hatten, eine schriftliche Stellungnahme einzureichen. Und nach der Anhörung ging es ganz schnell weiter: Sechs Tage später sollte schon im Bundestag abgestimmt werden und es wurden in der Zeit noch Änderungen vorgenommen. Nachdem der Bundestag abgestimmt hatte, entschied noch am selben Tag der Bundesrat und der Bundespräsident, der Gesetze immer offiziell ausfertigen muss, tat dies auch noch im Anschluss. Dass das alles an einem Tag geschieht, ist ganz selten.

Über Dr. Andrea Kießling

Dr. Andrea Kießling ist Akademische Rätin auf Zeit und forscht an der Ruhr-Universität Bochum zum Recht der öffentlichen Gesundheit. Die Juristin war eine der Expertinnen und Experten, die bei der öffentlichen Anhörung zum Bevölkerungsschutzgesetz im Bundestag von den Abgeordneten befragt wurden.

(lh)

Mitmischen-Autorin

Laura Heyer

hat in Heidelberg Geschichte studiert, in Berlin eine Ausbildung zur Journalistin gemacht und ist dann für ihre erste Stelle als Redakteurin nach Hamburg gegangen. Dort knüpft sie nun Netzwerke für Frauen. Aber egal wo sie wohnt – sie kennt immer die besten Plätze zum Frühstücken.

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